Havels Neujahrsansprache
Wieder einmal hielt Staatspräsident Vaclav Havel am Neujahrstag seine schon traditionelle Rede ans Volk. Das Wahljahr 2002 und die für die tschechischen Bürger damit verbundenen Aufgaben, die EU-Integration und das diesjährige NATO-Summit waren die Schwerpunkte seiner Ansprache. Über die Inhalte der Rede und die Reaktionen der Politiker informiert sie Olaf Barth.
Das Jahr 2002 sei ein Jahr des Umbruchs, so Havel. Schließlich hätten die tschechischen Bürger in vier wichtigen Wahlen den künftigen Charakter ihres Landes zu bestimmen. Laut Havel stehe die Republik nun am Scheideweg: Der eine Weg führe hin zur offenen Bürgergesellschaft der andere zur Dominanz immer der selben Bruderschaft, die die politische, ökonomische und mediale Macht in ihren Händen halte. Beide Möglichkeiten sieht der Präsident als gleichermaßen gegeben und appelliert also an die - wie er sie nennt - tapferen Bürger, dem aufkommenden Mafiatum und den mafiaartigen Erscheinungsformen des Kapitalismus die Stirn zu bieten. Der Herr Präsident habe zwar niemand namentlich genannt, urteilt der Politologe Bohumil Dolezal, aber es sei wohl unstrittig, dass seine Kritik auf die Interessengemeinschaft rund um den Oppositionsvertrag zwischen den regierenden Sozialdemokraten und der von Vaclav Klaus geführten oppositionellen ODS abziele. Doch wie sehen die Reaktionen der Politiker aus? Milos Zeman, seines Zeichens Regierungschef, bemerkte, er habe seine Aufmerksamkeit lieber den anmutigen Frauen des Privatsenders Nova gewidmet als den Worten des Präsidenten. Den Vorsitzenden der ODS und des Abgeordnetenhauses Vaclav Klaus zog es lieber in die Alpen, er bezeichnete es aber als unglücklich, dass Havel immer von "den Politikern" spreche und sich dabei anscheinend ausschließe. ODS-Vize Ivan Langer äußerte, er bevorzuge einen Spaziergang an der frischen Luft und der Vorsitzende der Sozialdemokraten Vladimir Spidla bekannte, er werde die Rede erst am Mittwoch in der Zeitung lesen. Es fand sich schließlich doch noch jemand, der die Rede gesehen hatte und auch gerne kommentierte. Der Vizeparteichef der Kommunisten, Miloslav Ransdorf, meinte, Havel sei für die Entstehung des von ihm kritisierten Mafiasystems mitverantwortlich. In einem weiteren Teil seiner Rede, widmete sich der Präsident dem Thema der europäischen Integration und der tschechischen Rolle in diesem Prozess. Für die Tschechen sei der EU-Beitritt die Chance, zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu einem festen Bestandteil eines solidarischen und tatsächlich auch demokratischen Bündnisses zu werden. Und der Präsident setzte in diesem Zusammenhang zu einer weiteren Politikerschelte an: "Bei den Überlegungen zu diesem Thema sollten wir uns nicht von jenen Reden täuschen lassen, die warnen, dass unsere tschechische nationale Identität in der Europäischen Union verschmelze. Nur wir selbst können sie zerschmelzen und viele von uns tun dies übrigens täglich: Indem sie die tschechische Sprache verunstalten, die tschechische Architektur banalisieren, die tschechische Landschaft vernichten, die tschechische Kultur ignorieren und kritisches Denken zu behindern trachten. Über die nationale Identität und deren angebliche Bedrohung sprechen am häufigsten diejenigen, die sich in ihrem Inneren diesbezüglich am wenigsten sicher sind." Das in diesem Jahr in Prag stattfindende NATO-Summit sieht Havel als Möglichkeit, eine Grundlage für eine bessere, sichere und gerechtere Weltordnung zu schaffen. Schließlich wendete sich Havel auch noch einmal dem 11.September zu: "Die Leute, die dort in den Flugzeugen und in den Gebäuden ums Leben kamen lenkten - und das ist ein trauriges Paradox - die Aufmerksamkeit stärker auf die Probleme dieser Zivilisation als die Hunderttausende, ja Millionen von Toten, die alljährlich Hungersnöte und lokale Kriege auf dieser Welt fordern." So seien die grauenvollen Anschläge auf New York und Washington auch als Aufforderung zum Handeln zu verstehen, als Impuls, die zwischenmenschliche Solidarität nicht zu vergessen, sich zu bescheiden und sich überall auf der Welt für die Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen.