Wie Tschechiens Präsident Havel europäische Politiker inspiriert hat

Václav Havel

Es gibt nur eine Handvoll Politiker der modernen europäischen Geschichte, auf deren Gedanken sich die Staats- und Regierungschefs regelmäßig berufen. Zu ihnen gehören Robert Schuman und Jean Monnet als Gründerväter der Europäischen Union, aber auch der letzte tschechoslowakische und erste tschechische Staatspräsident, Václav Havel. Er hat in den Brüsseler Kreisen bleibenden Eindruck hinterlassen. Der Beitrag entstand als Studiogespräch mit Viktor Daněk, er ist stellvertretender Direktor des Instituts für europäische Politik Europeum und ehemaliger Korrespondent des Tschechischen Rundfunks in Brüssel.

Václav Havel inspiriere die europäischen Politiker auch fast 13 Jahre nach seinem Tod, sagt Viktor Daněk. In der Europäischen Union haben sich Staaten zusammengeschlossen, die Jahrzehnte lang durch den Eisernen Vorhang voneinander getrennt waren. Václav Havel wurde laut dem Experten gemeinsam mit Lech Wałęsa zu einem der Symbole, auf denen diese europäische Einheit beruhe. Laut Daněk ist es zu einer guten Angewohnheit geworden, dass EU-Politiker bei bedeutenden Ereignissen auf diese beiden Persönlichkeiten hinweisen. Roberta Metsola erwähnte sie beispielsweise in der Rede nach ihrer Wahl zur EU-Parlamentspräsidentin:

Lech Wałęsa und Václav Havel | Foto: ČT24

„Meine Generation sieht kein altes oder neues Europa. Wir sind die Ersten der Erasmus-Generation und die Letzten der Havel- und Wałęsa-Generation. Wir verstehen, dass Gleichwertigkeit und die Möglichkeiten das Unterschiedliche gleichmachen.“

Auch EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen kommt laut Daněk verhältnismäßig oft auf Václav Havel zurück. Als sie in einer ihrer jährlichen Reden über die Lage der Europäischen Union eben über gemeinsame Wertegrundlagen sprach, versuchte sie zum Ausdruck zu bringen, warum die Menschen im Ostblock so für den Fall des Eisernen Vorhangs gekämpft haben:

„Sie wollten den Rechtsstaat: Vor Gericht sollen alle gleich sein. Sie wollten der Bespitzelung und staatlicher Spionage ein Ende setzen und die Korruption bekämpfen. Sie wollten die Freiheit, anders zu sein als die Mehrheit. Oder wie es der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel so wunderbar auf den Punkt gebracht hat: Sie wollten all diese ‚großartigen europäischen Werte‘.“

Václav Havel | Foto: © European Union 2000 - EP

Die Tschechische Republik ist erst nach Havels Amtszeit der Europäischen Union beigetreten. Dennoch ist Havel bis heute der tschechische Präsident, der am häufigsten im Europäischen Parlament aufgetreten ist. Bereits 1994 besuchte er das hohe Haus. Damals appellierte er an die Abgeordneten, den Erweiterungsprozess der EU nach außen zu unterstützen. Havel staunte jedoch auch über den damals immer noch verhältnismäßig neuen Vertrag von Maastricht. Treffend merkte er an, dieser sei allzu technokratisch wie eine hochentwickelte Maschine, der jedoch die Seele fehle.

„Die Lektüre des Vertrags von Maastricht wird die Menschen schwerlich zu begeisterten Europäern machen, obwohl es sich um ein historisch bedeutendes Dokument handelt. Er wird auch keine Patrioten aus ihnen machen, die diesen schwierigen Organismus als ihre Heimat, als ihr Heim erleben, respektive als eine Schicht ihres Heimes. Soll dieses große bürokratische Werk, das augenscheinlich allen Europäern das Leben erleichtern soll, tatsächlich gelten und die vielfältigsten Prüfungen der Zeit überdauern, dann muss es weitaus sichtbarer mit etwas anderem verkittet werden, als mit einer Struktur an Vorschriften und Normen“, so Václav Havel.

Václav Havel

Als er im Jahr 2000 wieder im Europäischen Parlament auftrat, war seine Rede ausgesprochen zeitlos. Wie Daněk schildert, machte sich Václav Havel  Gedanken darüber, was die europäische Identität ausmache, und schlug zahlreiche institutionelle Änderungen vor, die die EU den Bürgern näher bringen würden. Dazu gehörte beispielsweise eine Verfassung der Europäischen Union:

„Eine solche Verfassung könnten sich alle Kinder in Europa ohne größere Probleme in der Schule aneignen. (…) Die Existenz einer solchen grundlegenden Gesetzessammlung würde selbstverständlich nicht automatisch die radikale Umwandlung des heutigen Staatenverbundes in einen föderalen Überstaat bedeuten, wie es die Europaskeptiker befürchten. Aber allein, weil den Bewohnern des sich vereinenden Europas klarer sein wird, was die Europäische Union ist, würden sie diese besser verstehen und sich leichter mit ihr identifizieren.“

Viktor Daněk | Foto: Matěj Skalický,  Tschechischer Rundfunk

Václav Havel inspirierte damit den späteren erfolglosen Versuch, eine europäische Verfassung entstehen zu lassen. Ähnlich zeitlos war laut Daněk auch seine Rede zum zehnjährigen Jahrestag des Falls des Eisernen Vorhangs von 2009. In der hieß es unter anderem:

„Wir sind in einem Boot, und das Boot hat die richtige Richtung. Und es wird diese auch weiter haben, wenn alle seine Passagiere die geteilte Verantwortung tragen und nicht jeder sein eigenes Spiel spielt.“

Viele der Gedanken, die Václav Havel in seinen Reden geäußert hat, sind auch heute noch gültig. Die berühmteste europäische Rede von Václav Havel, deren Titel „Europa als Aufgabe“ die tschechische Ratspräsidentschaft als ihr Motto nutzte, stammt übrigens nicht aus dem Europäischen Parlament. Er hielt sie vielmehr 1996 bei der Übernahme des Karlspreises in Aachen.

Václav Havel | Foto: © European Communities 1994

Nach Havel ist im Übrigen auch ein Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg benannt. Es ist das neueste, das 2017 in Anwesenheit des damaligen Vorsitzenden des EU-Parlaments, Antonio Tajani, und Havels Witwe Dagmar Havlová eröffnet wurde. Vor seinem Eingang steht eine Bronzebüste Havels.

Daněk betont, dass es sich nicht um einen Palast handle, sondern um ein gewöhnliches Bürogebäude mit Tagungssälen. Einen der Säle schmückt die handgewobene Kopie der berühmten Tapisserie von Petr Sís, die er zu Ehren von Václav Havel schuf. Die Originaltapisserie hängt auf dem Prager Flughafen. Zu sehen sind dort auch viele Fotografien aus Havels Leben.

Das Gebäude steht etwas abseits auf dem Gelände des Europäischen Parlaments. Viktor Daněk vermutet, dass sich Václav Havel wohl über den Grund amüsieren würde, warum es trotzdem unter den Beamten und Parlamentariern so beliebt ist. Als einziges Gebäude hat es nämlich eine Terrasse, sodass man dort rauchen, frische Luft atmen und vielleicht sogar über den Sinn des europäischen Projekts nachdenken kann.

Foto: Mathieu Cugnot,  © European Union 2017 - EP
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