EU-Beitritt. Ein Jahr danach

0:00
/
0:00

Es ist mittlerweile ein Jahr her, seit die Tschechische Republik der Europäischen Union beigetreten ist. Fahima Khail sprach mit Vaclav Havel und anderen Politikern über die Entwicklung des Landes im ersten Jahr nach dem Beitritt:

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus vor 15 Jahren hat die Tschechische Republik massive politische und wirtschaftliche Veränderungen durchlebt. Nachdem sie zuvor über 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang isoliert war, führten die Veränderungen der 90er Jahre dazu, dass die Tschechische Republik 1999 volles Mitglied der NATO wurde. Und am 1. Mai 2004 gehörte die Tschechische Republik schließlich zu den 10 Nationen, die der EU beitraten.

Beim Prager NATO Gipfel vor über zwei Jahren, kurz bevor seine zweite und letzte Amtszeit als Präsident der Tschechischen Republik zu Ende ging, sprach Václav Havel von der Wiedervereinigung Europas. Der Dramatiker und ständige Kritiker des Kommunistischen Regimes regierte das Land, und vorher auch die Tschechoslowakei, insgesamt 13 Jahre lang und leistete einen großen Beitrag zur Entwicklung der Tschechischen Republik. So wird er auch heute noch als eine Ikone der Demokratie verehrt. Ich habe ihn gefragt, was seiner Meinung nach die EU-Mitgliedschaft für die Tschechische Republik ein Jahr nach ihrem Beitritt bedeut:

"Ich denke, dass unser Beitritt zur NATO und in die EU ein sehr großer Erfolg war, bei weitem nicht nur für mich, sondern für sehr viele Menschen. Es ging nicht nur darum, den Widerstand im eigenen Land und das fehlende Vertrauen gegenüber diesen Organisationen zu bekämpfen, sondern auch auf dem Gebiet der NATO- und EU Länder selbst das Prinzip der Erweiterung durchzusetzen. Es war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nämlich bei weitem nicht klar, dass sich die Strukturen und Organisationen der reichen, vereinten westlichen Länder bis in die Länder, die sich hinter dem Eisernen Vorhang befanden, erweitern würden. Ich weiß nicht, wie sehr ich mich selbst oder wie sehr andere Leute sich um diese Entwicklung verdient gemacht haben, und wie sehr das anerkannt oder wertgeschätzt wird. Aber in meiner Erinnerung ist es das wichtigste Ereignis überhaupt. Es betriff nicht nur unser Land, sondern die gesamte sich entwickelnde Weltordnung, denn der Fall des Eisernen Vorhangs wurde von allen sehr ernst genommen."

Der Beitritt zur Europäischen Union hat nichts über Nacht verändert, und die Meinungen des Volkes sind immer noch stark polarisiert. Jan Kasl, Vorsitzender der stark integrationsorientierten Europäischen Demokraten, denkt, dass das tschechische Volk allmählich beginnt, mehr und mehr eine europäische Denkweise anzunehmen:

Präsident Vaclav Klaus ist Tschechiens stärkster EU-Skeptiker. Und seine Meinungen werden von seiner selbst gegründeten Partei, der Demokratischen Bürgerpartei (ODS), die zurzeit die stärkste Oppositionskraft ist, geteilt. Es wird spekuliert, dass sie die nächste Regierungspartei werden könnte. Die ODS lehnt die Einführung der Europäischen Verfassung entschieden ab. Jan Zahradil, ODS-Delegationsleiter im Europäischen Parlament, denkt, dass die Tschechische Republik bisher sehr wenig von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat.

Jan Zahradil
"Ich denke nicht, dass sich viel im Leben der tschechischen Bürger verändert hat. Vielleicht, so hoffe ich es zumindest, hat sich die Tschechische Republik in der Europäischen Union ein wenig etabliert. Sie ist ein Teil des europäischen Binnenmarktes geworden. Andererseits sehen wir, dass die Europäische Union nicht wirklich fähig war, die Erweiterung um zehn neue Länder zu verkraften. Und es wird deutlich, dass dies immer neue Komplikationen mit sich bringt. Wir sehen auch, dass einige europäische Länder, besonders die alten Mitglieder der EU, immer noch mit vielen innenpolitischen Problemen zu kämpfen haben. Und einige dieser Länder versuchen diese Probleme auf unsere Kosten zu lösen."

Im Gegensatz dazu behauptet der Vorsitzende der Europäischen Demokraten, Jan Kasl, dass die EU sehr wohl konkrete Veränderungen gebracht hat:

"Unsere Gewässer sind verschmutzt, und die EU hilft, Abwasseranlagen zu bauen. Unsere Strassen sind nach vielen Jahren unter dem kommunistischen Regime beschädigt, und die EU hilft dabei, die Tschechische Republik mit der Europäischen Infrastruktur zu verbinden. Was das Humankapital angeht, so konzentriert sich die EU stark auf eine Entwicklung in diesem Bereich. Die EU hilft dadurch, der sozialen Ausgrenzung besser entgegenzuwirken. Aber die tschechische Wirtschaft ist klein und isoliert und somit offen für jeglichen Einfluss von außen. Und wie sie sich denken können, sind wir sehr vom Warenaustausch abhängig."

Mit diesen Ergebnissen blickt Jan Kasl sehr optimistisch in die Zukunft der Tschechischen Republik. Jan Zahradil von den Bürgerdemokraten jedoch warnt davor, dass trotz der Garantie für den freien Handel und für wirtschaftliches Wachstum die EU Gefahr läuft zu stagnieren, falls sie es nicht schafft, sich den neuen globalen Wettbewerben zu stellen.

"Ich denke, dass die Tschechische Republik ein mittleres oder ein kleines Land ist. Aber es gehört auf jeden Fall zu der Gruppe der ärmeren EU-Mitglieder. Also ist es unser Hauptziel, Bedingungen zu schaffen, die unser Wirtschaftwachstum steigern und unsere Voraussetzungen für Stabilität, Sicherheit und Wohlstand verbessern. Europa muss sich jedoch bewusst machen, dass trotz der Tatsache, dass es eines der reichsten Teile der Welt ist, andere Teile der Welt sehr schnell aufholen. Und ich denke, dass Europa, wenn es diese Tatsache nicht realisiert und entsprechende Maßnahmen und Veränderungen einführt, mit vielen Problemen zu kämpfen haben wird. Entweder in naher Zukunft, oder innerhalb von 20 oder 30 Jahren."

Das ist eine Besorgnis erregende Zukunftsaussicht. Aber ist dieser EU-Skeptizismus wirklich gerechtfertigt? Václav Havel:

"Ich denke, dass dieser EU-Skeptizismus, speziell in Tschechien, eine ganz eigene sozial-historisch verwurzelte Erklärung hat. Es existiert hier diese eigenartige Tradition einer sehr paradoxen Kombination von einerseits Kollaboration und andererseits patriotischem Geschrei. Und ich sehe in diesem Euroskeptizismus, mit der Betonung der nationalen Souveränität und einer Bedrohung des Nationalstaats, so etwas wie den möglicherweise unbewussten Ausdruck dieser eigenartigen, bizarren kulturellen, geistigen sowie politischen Tradition. Ich selbst möchte mich nicht an diese Tradition halten, sondern mich ihr vielmehr entgegenstellen. So wie ich es schon mein ganzes Leben lang getan habe."