Im Pilgerdorf der Inklusion

Jindřich Štefanides in der Töpferei (Foto: Claudia Wiggenbröker)
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Direkt an der tschechisch-polnischen Grenze befindet sich das kleine Örtchen Neratov. Es zieht jährlich Tausende Pilger an. Zwei Besonderheiten gibt es dort: eine Kirche, die ein Glasdach hat – und dass in Neratov Inklusion gelebt wird. Denn die meisten Angestellten, die in dem Ort arbeiten, haben Behinderungen.

Das Ortsschild von Neratov  (Foto: Claudia Wiggenbröker)
Von Prag aus ist man eine Weile nach Neratov unterwegs. Rund drei Stunden dauert die Fahrt in das Dorf im Adlergebirge. Schon die Anreise ist entschleunigend: vorbei an grün bewachsenen Hügeln, kleinen Wohnsiedlungen und Weiden mit Kühen und Eseln. Doch Neratov unterscheidet sich schon auf den ersten Blick von den anderen Dörfern in der Umgebung. Auf einem Hügel thront eine große, pastellgelbe Kirche. Sie hat ein Glasdach, durch das man vom Kirchenschiff in den Himmel schauen kann. Im vergangenen Jahr habe das Gebäude mehr als 40.000 Touristen angelockt, sagt Antonín Nekvinda.

„Eine der Besonderheiten für die Besucher ist, dass die Kirche in Neratov rund um die Uhr offensteht. Der Pilger kann also zu jeder Zeit hinein. Das ist einer der Gründe für die Besucher, zu uns zu kommen, wie wir in Gesprächen herausgefunden haben. Ein weiterer ist, dass wir hier ein Gästehaus, eine Kneipe und eine eigene Brauerei haben. Außerdem ist es ein schöner und ruhiger Teil des Adlergebirges. Und nicht zuletzt ist es auch die Offenheit: dass man den Behinderten hier begegnet und sich mit ihnen unterhalten kann.“

Kein Acht-Stunden-Tag

Spielzeuge aus dem Dorfladen  (Foto: Claudia Wiggenbröker)
Antonín Nekvinda arbeitet für den gemeinnützigen Verein Sdružení Neratov. Dieser betreibt das Gästehaus, die Kneipe und die Brauerei. Dort wird auf die besonderen Bedürfnisse der Angestellten Rücksicht genommen.

„Die Menschen hier sind zum Beispiel körperlich behindert oder haben lange Krankenhausaufenthalte hinter sich, etwa wegen Krebserkrankungen. Ihnen bieten wir die Stellen bei uns an, weil sie hier einen verkürzten Arbeitstag haben und wir uns direkt um sie kümmern können. Die Beschäftigung bei uns mag für sie dann nur ein Übergang sein, aber sie können sich bei uns weiterentwickeln.“

Auch Marie Šuláková ist in Neratov beschäftigt. Sie arbeitet in der Wäscherei, die das Bettzeug für das Gästehaus und die Tischdecken für die Kneipe sauber hält. Die Angestellte kann keinen Acht-Stunden-Tag mehr durchhalten, seitdem sie im Jahr 1999 eine Operation hatte. Die Ärzte hätten dabei die Narkose überdosiert, erzählt sie.

David Havlíček arbeitet in der Brauerei  (Foto: Claudia Wiggenbröker)
„Durch die Narkose-Überdosis habe ich dann aufgehört zu sprechen, ich habe Wörter und Silben einfach weggelassen. Ich habe ja drei Kinder und war geschieden, die ganze Situation war also verrückt.“

Seit neun Jahren arbeitet Marie Šuláková nun in Neratov. Auch ihr Kollege David Havlíček ist schon lange in dem Dorf. Nur fünf Gehminuten von der Wäscherei entfernt, schleppt er Bierkästen eine Treppe hoch. Der Hobbyfotograf arbeitet in der kleinen Brauerei von Neratov. Neben einer leichten geistigen Behinderung haben ihn noch andere Probleme in das Pilgerdorf im Adlergebirge geführt.

„Ich war in vielen Heimen und Einrichtungen. Schließlich bin ich aus der Psychiatrie nach Neratov gekommen, und nun bin ich schon fünf Jahre da. Hier habe ich die Möglichkeit, im betreuten Wohnen zu leben und muss nicht mehr in der Psychiatrie sein“, erzählt der 27-Jährige.

Foto: YouTube Kanal des Vereins Neratov
Zu seinen Aufgaben gehört es unter anderem, das Bier in Flaschen abzufüllen und sie zu etikettieren. Die Arbeit macht ihm Freude, erzählt der junge Mann. Bald könnte es in der Brauerei sogar noch mehr zu tun geben.

„Wir hoffen, dass wir die Produktion erhöhen können, damit mehr Menschen sich das Bier kaufen. Und zwar nicht nur hier in der Umgebung. So könnten wir mit der Zeit auch etwas an dem Bier verdienen“, erklärt Antonín Nekvinda von der Sdružení Neratov.

Einst nur zwei Einwohner

Die Kirche in Neratov  (Foto: Claudia Wiggenbröker)
Momentan leben 60 behinderte und nicht-behinderte Menschen in dem Dorf. So viele Einwohner hatte Neratov allerdings nicht immer.

„Da Neratov im ehemaligen Sudetenland liegt, wurden nach dem Krieg die Deutschen von hier vertrieben. Das Dorf war völlig entvölkert, nur noch zwei Menschen lebten hier. Die Kirche war zerstört. In der Zeit der sozialistischen Tschechoslowakei entwickelte sich Neratov zu einem Ort der Wochenend-Urlauber. Und dann folgte die Samtene Revolution. Der Priester Josef Suchár gründete danach gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen die Sdružení Neratov. Sie haben die Kirche renoviert und das normale Gemeindeleben wiederbelebt.“

Diese Anfangszeit war jene, in der es in Neratov häufiger Konflikte gab, erinnert sich Antonín Nekvinda. Das habe vor allem daran gelegen, dass die Behinderten zu kommunistischen Zeiten hinter hohen Mauern versteckt worden waren – und der Rest der Gesellschaft danach nicht wusste, wie er mit solchen Menschen umgehen sollte.

Foto: YouTube Kanal des Vereins Neratov
„Das hat sich inzwischen stark verändert. Die Ausbildung und die Gesellschaft haben sich verändert. Man begegnet häufiger Menschen mit Behinderung. Wenn es in Neratov zu einem Konflikt kommt, dann gibt es den nicht zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Es ist ein Streit zwischen Nachbarn. Und der entspricht den normalen zwischenmenschlichen Beziehungen auf einem Dorf.“

Start in ein selbstbestimmtes Leben

Jana Kreibichová arbeitete an einem Muster  (Foto: Claudia Wiggenbröker)
Die Sdružení Neratov ist aber nicht nur in dem einen Dorf im Adlergebirge aktiv. Auch in dem größeren Nachbarort Bartošovice, zu dem Neratov gehört, ist der Verein tätig. Dort befindet sich ein Dorfladen, in dem eine Vielzahl von Produkten verkauft wird: genähte Kuscheltiere, getöpferte Tassen, gewebte Kleidung. All diese Gegenstände werden in den Räumen neben oder über dem Shop hergestellt – ebenfalls von Menschen, die in ihrem Alltag eingeschränkt sind.

„Wir sehen hier verschiedene Backformen; eine ist größer, die andere kleiner und eine dritte ist mittelgroß. Wir dekorieren sie mit Mustern, mit Blumen oder Kreisen. Also mit Motiven, die den Kunden gefallen“, erklärt Jana Kreibichová.

Sie arbeitet in der Töpferei des Ortes. Bereits seit zehn Jahren ist sie hier tätig. Den Job hat sie sich zunächst aus der Not heraus gesucht.

„Ich bekomme eine Invalidenrente, doch diese ist nicht sehr hoch. Deshalb habe ich nach einer Arbeit gesucht, die ich noch zusätzlich machen kann.“

Jindřich Štefanides in der Töpferei  (Foto: Claudia Wiggenbröker)
Während Jana Kreibichová erzählt, schmirgelt ihr Kollege Jindřich Štefanides neben ihr eine Tasse ab.

„Im Wesentlichen führe ich viele kleinere Arbeiten aus im gesamten Prozess. Vor allem bereite ich das Rohmaterial vor und säubere die Produkte. Letzten Endes wünscht sich unsere Leiterin, dass täglich auch ein Mann zur Stelle ist – denn es gibt immer einige Arbeiten, die für Frauen nicht unbedingt geeignet sind. Dazu gehört zum Beispiel die Handhabung von bestimmten Materialien.“

So steht Štefanides vor allem parat, um schwere Kisten zu schleppen – was in der Töpferei häufiger vorkommt. Sein Handicap:

„Vor allem habe ich psychische Probleme, aber ich bin auch bewegungseingeschränkt. Meine Geschichte ist ansonsten ähnlich wie die von meiner Kollegin Jana. Ich bin wegen meiner Behinderung arbeitsunfähig und finde nur schwer eine Beschäftigung, die ich ausüben kann. Dann habe ich hier von der Behindertenwerkstatt erfahren und habe das ausprobiert. Letztlich bin ich hier geblieben.“

Antonín Nekvinda  (Foto: YouTube)
Insgesamt 250 Mitarbeiter hat die Sdružení Neratov. 25 von ihnen können in Neratov eine spezielle Unterkunft nutzen, in der sie nach der Arbeit betreut werden. Antonin Nekvinda von der Organisation sagt, dass der Aufenthalt in dem Ort für manche Behinderte der Start in ein nahezu selbstständiges Leben ist.

„Einigen gelingt das, anderen nicht. Wir helfen, indem wir durch unseren Sozialdienst für manche – auch rund um die Uhr – bereitstehen. Was wir ihnen zeigen, reicht von der richtigen Körperpflege, über das Einkaufengehen, die Regelung von den Finanzen, bis hin zu Behördengängen. Wir sind immer froh, wenn wir jemanden – vielleicht auch nach vielen Jahren – dazu befähigt haben, die Werkstatt zu verlassen und ein eigenes Leben zu führen.“

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