Jan Hus und die Prager Universität
In Tschechien wird am Freitag der Verbrennung von Jan Hus gedacht. Der Kirchenreformator war nach dem Konzil von Konstanz 1415 in der Stadt am Bodensee auf dem Scheiterhaufen gestorben. Diese wichtige Persönlichkeit der tschechischen Geschichte kann man unter mehreren Aspekten betrachten. Hus war unter anderem auch Rektor der Prager Universität, die zu seiner Zeit eine ihrer schwierigsten Zeiten durchlebte. Damals haben sich Religion, Politik und Macht gegenseitig in hohem Maße beeinflusst.
Ein Meilenstein seiner Karriere lag im Jahr 1402: Er wurde Verwalter und Prediger in der so genannten Betlehemskapelle. Dieses etwa zehn Jahre zuvor erbaute Gebäude wurde ausschließlich für Predigten in tschechischer Sprache genutzt. Jan Hus war schon damals als geschickter Redner bekannt, der die Verfehlungen der Kirche treffend kritisieren konnte. Es dauerte nicht lange, und die Betlehemskapelle verwandelte sich zu einem Zentrum der geistlichen Reformbewegung. Der Prager Historiker und Theologe Martin Chadima:
„Als sich an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert die Schriften des englischen Reformators John Wycliffe in Prag verbreiteten, führte dies zu großer Unruhe. Wycliffe war in seinem Land als Theologe und Philosoph bekannt geworden, und in beiden Disziplinen schwamm er gegen den Strom. In der Theologie lehnte er die so genannte Transsubstantiation des Corpus Christi ab, die zu den Fundamenten der katholischen Lehre gehörte. Als Philosoph neigte er zum Realismus von Platon, während die meisten europäischen Denker den Nominalismus von Aristoteles bevorzugten. An der Prager Universität fand die Lehre von Wycliffe viele Anhänger, vor allem unter den Magistern tschechischer Nation. Das waren vor allem Jan Hus, Hieronymus von Prag, Stephan von Paletsch, Stanislaw von Znaim und Nikolaus von Stoitschen. Die letzten drei Namen muss man sich besonders merken. Gerade diese großen Freunde von Jan Hus wurden später seine Feinde auf Leben und Tod. Vor allem Stephan von Paletsch gehörte zu jenen, die Hus später auf den Scheiterhaufen brachten. Er trägt am meisten Verantwortung für Hus’ Tod.“Zu den Reformlehren kam an der Prager Universität auch noch der Nationalismus. Bei ihrer Gründung 1348 war die Hochschule offen für Studenten und Gelehrte aus ganz Mitteleuropa, denn ihr Gründer Karl IV. hatte sie als Konkurrenz für die Unis in Paris, Bologna und Oxford geplant. Das Ziel wurde schnell erreicht: Anfang des 15. Jahrhunderts stammte die Mehrheit der Studenten und Professoren aus dem Ausland, vor allem aus Bayern, Sachsen, Polen und Ungarn. Die Ausländer blieben der Katholischen Kirche und ihren Traditionen treu, die Tschechen neigten hingegen zur Revolte. Die Prager Universität erhielt deshalb den Ruf eines „Ketzernests“.:
„Es häuften sich die Beschwerden gegen die tschechischen Magister, sie kamen vor allem von den deutschen Kollegen. Den Beschwerden schlossen sich auch viele Ordensgemeinschaften an, die von Hus wegen Völlerei und amoralischem Leben kritisiert wurden. Dies stand im Zusammenhang mit dem Ausschluss einiger Gelehrter der Ordensbrüder von der Uni. Des Weiteren wand sich auch der Prager Erzbischof Zbyněk von Hasenburg gegen die Reformbewegung, er war ein Anhänger des Papstes in Rom. Es gab damals nämlich ein Doppelpapsttum. Auf der anderen Seite des Konfliktes in Prag befanden sich die tschechischen Gelehrten, die Anhänger von Wycliffe waren, und der böhmische König Wenzel IV., der nach der Kaiserkrone strebte“, sagt Martin Chadima. 1408 wurden die Ideen von Wycliffe in Prag als Irrlehre verurteilt. Jeder, der diese verbreitete, musste ab da mit strengen Strafen rechnen. Einige tschechische Meister sagten sich aus Angst vor dem Ausschluss von der Universität von Wycliffes Lehre los, darunter der bereits erwähnte Stephan von Paletsch. Die anderen hingegen radikalisierten sich unter der Führung von Jan Hus. Sie begannen, mehr Einfluss an der Hochschule zu fordern. Dabei stützten sie sich auf König Wenzel IV.:„Die meisten ausländischen Magister an der Prager Universität waren dagegen, dass König Wenzel zum Kaiser gewählt wird. Sie unterstützten den römischen Papst, der mit Wenzel im Streit lag. Der böhmische König gab deshalb offen seine Unterstützung für die ‚Wycliffisten’ bekannt, und mit dieser Ermutigung begingen diese im Jahr 1408 eine kleine Provokation. Und zwar bei einem so genannten Quodlibet. Dies war das alljährliche Treffen von Studenten und Professoren, bei dem wichtige philosophische und theologische Fragen behandelt wurden. Tschechische Studenten setzten als ‚Quodlibetar’, also als Leiter der Diskussion, den kurz zuvor verurteilten ‚Wycliffisten’ Mathäus von Knin durch. Deutsche Studenten protestierten beim König dagegen. Da aber Wenzel IV. mit den Deutschen und dem Papst gebrochen hatte und die Universität auf seine Seite ziehen wollte, gab er das bekannte Kuttenberger Dekret heraus.“
Dieses Dekret änderte die Lage an der Universität auf grundsätzliche Weise. Alle wichtigen Entscheidungen wurden laut eines Nationenschlüssels getroffen. Die Tschechen besaßen bis dahin bei den Wahlen jeweils eine Stimme, die anderen Nationen aber drei Stimmen. Als Tschechen galten dabei auch die deutschsprachigen Bewohner der Böhmischen Länder. Das Kuttenberger Dekret aber drehte dieses Verhältnis um: Die Tschechen hatten plötzlich jeweils drei Stimmen und die Ausländer je eine Stimme. Frei übersetzt stand in dem Dekret unter anderem:„Obwohl der Mensch verpflichtet ist, alle Menschen der Welt christlich zu lieben, muss diese Liebe anständig geäußert werden. Die wahre Liebe beginnt immer bei sich selbst und pflanzt sich auf die Kinder je nach der Verwandtschaft fort. Die Ausländer den Einheimischen in der Liebe vorzuziehen, ist deshalb unmoralisch und verwerflich. Weil sich die deutsche Nation ohne jedes Heimrecht in unserem Königreich drei Stimmen an der Prager Universität angeeignet hat, und das tschechische Volk, der wahre Erbfolger seines Landes, sich nur noch einer Stimme erfreut, wird hiermit ausdrücklich angeordnet, den Tschechen drei Stimmen bei allen Wahlen, Besprechungen, Prüfungen, Gerichtsverhandlungen und anderen Angelegenheiten zu ermöglichen.“
Die Folgen des Dekretes für die Universität waren fatal. Die ungefähr 800 deutschen Gelehrte und Studenten verließen Prag und schrieben sich an anderen Universitäten in Mitteleuropa ein. Die Fluchtwelle führte auch zur Gründung der Universität in Leipzig. Aus Solidarität verließ zudem eine Reihe von Juristen Prag, obwohl das Dekret ihre Fakultät nicht betraf. Das alles bedeutete den Verlust von 80 Prozent der Studenten und Gelehrten. Die Prager Universität wurde praktisch von einem Tag auf den anderen eine provinzielle Hochschule, wie Martin Chadima erläutert:„In dieser Situation wird Jan Hus Rektor der Universität und umgibt sich mit seinen Anhängern wie Hieronymus von Prag, Mathäus von Knin und Johann von Jesenitz. Hus öffnet die Tür für Reformideen und bemüht sich zugleich, das Niveau der Universität zu halten. Er leitet Lesungen und Seminare, hält Predigten und Vorträge und organisiert regelmäßig das Quodlibet. Doch unter den neuen Umständen gelingt das alles immer schlechter. Der Universität fehlt die europäische Dimension, sie kann weder mit Paris, noch mit Bologna oder Oxford konkurrieren. Ausländische Studenten bleiben fern, und das bedeutet auch einen wirtschaftlichen Verlust. Ihre Zimmer bleiben leer, Vermieter, Wirte, Friseure und Wäschereien haben ihre Kunden verloren. Die Kritik an der Universität kommt deswegen nicht nur von Seiten der Kirche, sondern auch von den Gewerbetreibenden, die um ihr Geschäft gebracht wurden.“
Die folgenden Ereignisse deuten schon auf das bittere Ende hin. 1410 lässt der Prager Erzbischof Zbyněk Zajíc die Schriften von Wycliffe demonstrativ verbrennen. 1411 organisiert Jan Hus noch das Quodlibet, aber kurz danach verliert er die Unterstützung durch den König. Der Grund: Jan Hus kritisiert den Verkauf von Ablässen so eifrig, dass es zu einem Aufstand kommt. Tausende radikale Studenten stürmen die Prager Kirchengebäude, was der König nicht mehr akzeptieren kann. In demselben Jahr wird Jan Hus als Rektor suspendiert und wegen Ketzerei angeklagt. 1414 macht er sich nach Konstanz auf. Er ist von seinem Recht überzeugt und will sich vor dem Konzil verteidigen. Die kirchlichen Würdenträger beharren jedoch auf ihrer Meinung. Jan Hus wird als Heretiker zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 1416 kommt am selben Ort und in gleicher Weise auch Hus’ engster Mitarbeiter ums Leben: Hieronymus von Prag. Und die Prager Universität? Sie hat ihr Prestige aus der vorhussitischen Zeit nie mehr wieder gefunden.