Karlin - Karolinenthal: Eine kleine Stadtgeschichte
In einer Galerie in Prag-Karlin wurde in der vergangenen Woche eine Foto-Ausstellung eröffnet, die den Prager Stadtteil aus verschiedenen Perspektiven zeigen soll. Das ehemalige Industrie- und Arbeiterviertel ist in den letzten Jahren großen Veränderungen ausgesetzt. Neue Büro- und Verwaltungsgebäude entstehen und paradoxerweise führte gerade die Hochwasserkatastrophe im Jahr 2002 auch zu Modernisierungen und Restaurierungen vieler Straßen und Häuser. Karlin ist trotz zentrumsnaher Lage aber von vielen Pragbesuchern weitgehend unentdeckt. Über die Geschichte und den Charme von Karlin oder auf deutsch Karolinenthal sprach für das heutige Geschichtskapitel Andreas Wiedemann mit dem Historiker Jiri Pesek:
Wann wurde Karlin zur Prager Vorstadt und was genau waren eigentlich die Prager Vorstädte?
"Prag ist eine Stadt, die etwas anders ist als die meisten anderen Städte. Prag besaß seit dem Mittelalter ein riesiges Areal. Karl der IV. hatte schon 1348 ein so großes Gebiet in Stadtmauern eingefasst, dass man auf diesem Territorium bis ins 19. Jahrhundert ruhig leben und bauen konnte. Prag war wirklich eine große Metropole und das nicht nur für das Mittelalter sondern auch für die frühe Neuzeit und die Anfänge des Industriezeitalters. Doch es wurde allmählich deutlich, dass es für bestimmte Zwecke, wie zum Beispiel für die Industrie und für preiswertes Wohnen günstig ist, außerhalb der Stadtlinie eine neue Siedlung bzw. zwei neue Siedlungen hinter den Stadtmauern anzulegen. Die Stadtmauern bestanden nicht nur formell, sondern waren ordentliche Befestigungen. Hinter der militärischen Linie, die man nicht bebauen durfte, konnte man dann relativ billig Arbeitersiedlungen bauen aber auch gute Parzellen für die Fabriken finden. In diesem Rahmen entstand 1810 die Vorstadt Smichov, unter dem Petersberg oder Laurenzberg, am linken Moldauufer. 1816 wurde Karolinenthal vermessen. 1817 wurde auf den Grundstöcken des böhmischen "Ordens der Kreuzherren mit dem roten Stern" eine neue Vorstadt gegründet, die dann in kurzer Zeit zu einer selbständigen Stadt erklärt wurde. Das sind die Entstehungsmomente von Karolinenthal oder auf Tschechisch Karlin. Die Vorstadt wurde nämlich ursprünglich nach der Gemahlin des Kaisers Franz I., Karolina Augusta, benannt und dieses Gebiet hieß ursprünglich Rosengarten, also ein Parkgelände hinter den Stadtmauern bis zur Gründung von Karlin.
Was sind die charakteristischen Merkmale von Karlin?
Karlin ist dadurch interessant, dass es wirklich eine Stadt bzw. eine Vorstadt war, die in der damaligen Zeit also kurz nach den napoleonischen Kriegen, im klassizistischen Stil angelegt wurde, mit schachbrettartigen angelegten Strassen und Plätzen. Stilistisch ist es, zumindest war es das sehr lange, eine interessante urbanistisch und architektonisch klassizistische Stadt, welche dadurch auch in der Stimmung geprägt wurde. Später wurde Karlin zu einem Arbeiterviertel bzw. zu einer Vorstadt der Arbeiter, aber in dieser Gründungszeit hatte diese Stadt ganz offensichtlich noch höhere Prätentionen.
War Karlin eher ein Arbeiterwohnviertel oder auch ein Produktionsort?
Eigentlich war Karlin alles bzw. beides. Es wohnten dort Arbeiter, es gab dort Fabriken, die davon profitierten, dass man die spezielle Steuer nicht zahlen musste, welche die Preise für Wohnungen, für Lebensmittel, und fürs Heizen im inneren von Prag nach oben trieben und bis zur Zwischenkriegszeit erhalten blieben. Dadurch war Karolinenthal billiger. Gleichzeitig zeigte sich, dass Prag sich in einer Epoche des Wachstums befand, in der die Prager Städte und Vorstädte zusammenwuchsen, auch im ökonomischen und funktionstechnischen Sinne. Es wurde deutlich, dass Prag einen Hafen braucht. Und so begann man auf dem Gebiet von Karolinenthal einen Handelshafen zu bauen. Ansonsten wurde Karlin dadurch geprägt, dass es dort viele Gemüsegärten gab, das war eine Gemüselieferungsstelle für die Prager Agglomeration bis zum Ersten Weltkrieg.Seit wann gehört Karlin zur Stadt Prag?
Die Geschichte ist kompliziert. Prag versuchte schon seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, alle diese Vorstädte und freien Städte in der Umgebung anzugliedern. Aber für diese Städte war das aus wirtschaftlichen Gründen und vor allem für die Eliten dieser Städte nicht günstig. So musste Prag mit der Ablehnung durch Vorstädte wie die Königlichen Weinbergen, Smichov, Karolinenthal, Nusle und Vrsovice kämpfen. Der Durchbruch gelang am Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann gab es eine Reihe von Eingliederungsverträgen, die auch die finanziellen Probleme beseitigen sollten. Diese Verträge wurden aber nicht durch den Landtag bestätigt. Bis zum Ersten Weltkrieg ist es nicht gelungen, diese Probleme zu beseitigen. Karolinenthal wurde mit der ganzen Prager Agglomeration erst durch ein Vereinigungsgesetz aus dem Jahr 1920 mit Gültigkeit ab dem 1. Januar 1922 vereinigt. Seit dieser Zeit ist dieses Viertel Teil von Prag.
In Karlin gibt es doch auch einige technische Dinge, die damals neu waren!
Als die Gasifizierung und Elektrifizierung begann musste die Stadt Prag natürlich Gas- und die Elektrizitätswerke bauen. Auf dem Gebiet der historischen Innenstadt war dafür aber kein Platz. Dadurch entstanden dann die Gas- und Elektrizitätswerke in den Vorstädten. Nach Karlin führte eine der ersten elektrischen Straßenbahnen. Karlin war auch wichtig, weil über dieses Territorium in den vierziger Jahren die ersten Züge nach Prag fuhren, zum ersten Bahnhof, dem heutigen Masaryk-Bahnhof. Die Verflechtung und die Verkehrsverbindung zwischen Prag und Karlin spielte schon sehr früh eine wichtige Rolle.Was für besondere Gebäude gibt es in Karlin?
In Karlin gibt es einige interessante Häuser. Das was aber unbedingt genannt werden muss, ist die Kirche von Karlin (St.-Kyrill- und Method-Kirche), die mit interessanten Statuen von Levi verziert wurde. Eine Kirche, auf dem großen Karliner Platz, die gerade diese Epoche nach den napoleonischen Kriegen ganz deutlich durch ihre Neogotik präsentiert. Man kann dann in Karlin noch eine Menge von kleinen interessanten Details finden, auf jeden Fall ist es das wert.
Was kann man über das heutige Karlin sagen?
Karlin erlebte einen Schock. Bei dem Prager Hochwasser im Jahr 2002 hat der Fluss Moldau versucht, ein altes Flussbett zu erneuern und durch die bebaute Stadt zu fließen. Das Stadtviertel wurde sehr stark beschädigt. Viele Häuser hatten schwere Schäden. Inzwischen hat diese Katastrophe aber zu einer sehr wichtigen Modernisierung des Viertels geführt. Karlin sieht jetzt sehr schön und interessant aus und sehr modern. Viele Firmen haben hier ihren Sitz. Ich glaube, dass es in der Geschichte immer so ist, dass durch die Katastrophen oft erst die Qualität entdeckt wird, die bereits in Vergessenheit geraten ist. Karlin ist heute ein modernes Viertel, mit viel Kultur, mit einigen schönen Strassen und Promenaden und es wird intensiv gebaut. Ich vermute, es wird die Erweiterung des Prager Zentrums und dadurch hat diese Entwicklung dem alten Karlin einen Dienst erwiesen.