Klischees, Erfahrung und Wahrnehmung

Wie sehen uns die anderen? Wie werden Tschechinnen und Tschechen im Ausland wahrgenommen? Und wie nehmen Tschechen die anderen wahr? Eine besonders interessante Frage innerhalb eines immer grösser werdenden Europa. Dazu die folgenden Ausführungen im Feuilleton von Alexander Schneller.

Zdenek, meinen Kollegen, treffe ich nach fast zwei Monaten wieder. In den Sommerferien war er unter anderem auch in der Schweiz. In Basel und in Schaffhausen sowie in Neuhausen am Rheinfall. Und da er weiss, dass ich Schweizer bin, erzählt er mir ausführlich von seinen Erlebnissen im Land meiner Vorfahren. Was ich da zu hören bekomme, erstaunt mich echt. Er schwärmt in den höchsten Tönen von den freundlichen und geduldigen Schweizern. Von ihrer Zuvorkommenheit, von ihrer Hilfsbereitschaft. Von ihrer Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit. Zuverlässigkeit und Korrektheit verstehen sich von selbst. Ausserdem kann er seine Beurteilung natürlich mit mehreren Beispielen untermauern. Ich habe übrigens überhaupt keinen Grund, an seinen Ausführungen zu zweifeln.

Nun ist es nicht so, dass ich als Schweizer finde, wir seien ein unfreundliches, ungeduldiges, abweisendes, wenig hilfsbereites und verschlossenes Volk. Und zuverlässig, sogar pünktlich, und vor allem korrekt sind wir sowieso. Dass wir aber Fröhlichkeit ausstrahlen und wirklich aufgeschlossen sein sollen, hat mich dann doch ziemlich erstaunt. Das habe ich in den vielen Jahren meiner Anwesenheit in diesem Land, das sich nach wie vor standhaft weigert, in die Europäische Union einzutreten, denn doch nur selten bemerkt.

Zdenek meint auch, dass die oben genannten Eigenschaften in Tschechien eher selten anzutreffen seien. Freundlichkeit zum Beispiel in Kaufhäusern oder Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden oder gar Optimismus seien in Schwejks Landen eher rar. In diesem Fall kann ich nicht ganz widersprechen, obwohl zu sagen ist, dass sich vieles in den letzten Jahren verbessert hat und noch verbessert.

Aber es gibt doch so etwas wie einen Nationalcharakter. Natürlich handelt es sich dabei in der Regel um Klischees. Etwa so: Die Franzosen haben die beste Küche, die Italiener sind die besten Liebhaber, die Deutschen sind die Fleissigsten, die Schweizer die Reichsten und die Pünktlichsten und so weiter und so fort.

Kurz und gut : Mein Freund Zdenek hat, und das freut mich natürlich ungemein, mit den Schweizern nur die besten Erfahrungen gemacht. Ja, und die Tschechen! Da ist halt alles noch so weder Fisch noch Vogel, sagen die einen. Alles ist im Fluss, das meiste noch nicht definitiv, noch auf dem Weg zur Vollendung, finden die anderen. So oder ähnlich denkt und schreibt es sich allenthalben.

Kürzlich hatte ich Besuch aus der Schweiz. Petra, eine meiner ehemaligen Schülerinnen, und ihr Lebensgefährte waren zum ersten Mal in Prag. Wie ich sie treffe, schwärmen sie von der Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Geduld, Höflichkeit und Offenheit der Tschechinnen und Tschechen. Alles sei hier viel unkomplizierter, viel lockerer als in der Schweiz. Ha! Das hat mich doppelt gefreut. Denn: Die Tschechen kommen gut weg in den Augen von Petra und ihrem Freund, und die Schweizer kommen gut weg in den Augen von Zdenek.

Na ja, alles hat sicher mit der jeweils individuellen Wahrnehmung zu tun. Und in beiden Fällen ist diese wohl unter anderem von der besonderen Situation der Ferien geprägt. Wie auch immer: Schön ist es, dass alteingefahrene Klischees durch die eigene Erfahrung und Wahrnehmung korrigiert und damit ins Lot gebracht werden können.