Die Armee des General Vlasov und die Befreiung Prags
Seit der Samtenen Revolution von 1989 wiederholen sich immer wieder Diskussionen darüber, wer nun eigentlich Prag im Mai 1945 von den deutschen Besatzern befreit hat. Kein Zweifel herrscht daran, dass russische Soldaten dabei eine recht grosse Rolle spielten. Doch über 40 Jahre lang wurde verschwiegen, dass viele dieser russischen Soldaten nicht zur Roten Armee gehörten, sondern deutsche Wehrmachtsuniformen trugen und zur sogenannten Russischen Befreiungsarmee des General Vlasov gehörten.
Der Aufstand gegen die deutschen Besatzer begann in Prag am 5. Mai 1945 im Rundfunkgebäude im Prager Zentrum. Organisiert wurde er vom kurz zuvor entstandenen Tschechischen Nationalrat. Vom Rundfunkgebäude aus sendeten die tschechischen Aufständischen ihre verzweifelt klingenden Hilferufe auf Englisch und Russisch an die Alliierten mit der Bitte, ihre Truppen so schnell wie möglich nach Prag zu schicken.
Als die Prager allein und schlecht ausgerüstet ihren Aufstand begonnen hatte, hatte ihre Führung keine Ahnung, wo sich gerade die Rote Armee oder die Amerikaner befanden. Gehört wurden die vom Prager Rundfunk ausgestrahlten Hilferufe von Soldaten, mit denen die tschechischen Aufständischen nicht gerechnet hatten: den Soldaten der russischen Befreiungsarmee. Diese hatten bereits ein recht bewegtes Schicksal hinter sich. Angeworben wurden sie in deutschen Kriegsgefangenenlagern. In ihren Reihen befanden sich überzeugte Antikommunisten, von Stalin und seiner Kriegsführung Enttäuschte und solche, die hofften, in dieser Armee den Krieg besser überleben zu können als in den Kriegsgefangenenlagern. Nach seiner Niederlage gegen die Wehrmacht bei Leningrad schloss sich im Sommer 1942 General Andrej Vlasov dieser Armee an und wurde deren Oberbefehlshaber. Vlasov war von Stalins, die Kriegsführung betreffenden Entscheidungen enttäuscht und sah in der Bildung einer antikommunistischen russischen Befreiungsarmee eine Möglichkeit, Stalins Herrschaft in Russland zu beenden. Dass er sich dabei in den Dienst Hitlers stellte, scheint für Vlasov kein Problem gewesen zu sein.
Bis Anfang 1945 kamen die rund 900.000 Soldaten der Befreiungsarmee nicht zum Einsatz. Erst als die Lage immer aussichtsloser wurde, entschloss sich die Wehrmachtsspitze, sie einzusetzen - von entscheidender Bedeutung waren die Russen allerdings nicht. Mit dem Näherrücken der Roten Armee wurde Vlasov und seinen Soldaten ihre gefährliche Lage bewusst: sollten sie in russische Kriegsgefangeneschaft gelangen, so war ihnen als Landesverrätern die Todesstrafe gewiss. Deshalb wollten sie in amerikanische Kriegsgefangenenschaft kommen. Eine antideutsche Kriegshandlung auf ihrem Weg in diese war für die politische Reinwäsche recht nützlich. Und so entschloss sich Sergej Bunjacenko, Befehlshaber der sich gerade in Nordböhmen befindenden Truppenteile der Befreiungsarmee, dem aufständischen Prag zu Hilfe zu eilen."Hallo! Hallo! Hier ist Prag. An die amerikanischen und britischen Piloten über Böhmen. In der Region von Zbraslav und Beroun befinden sich die Truppen von General Vlasov, die auf unserer Seite kämpfen. Sie sehen aus wie deutsche, tragen die gleichen Uniformen wie deutsche Soldaten. Hallo hallo..."
In Prag reagierte man mit gemischten Gefühlen auf diese unerwartete Hilfe. Die Lage der Aufständischen war am 6. Mai alles andere als gut, die deutschen Einheiten, die in der Mehrzahl waren und um einiges besser ausgerüstet waren, hatten begonnen, die Stadt von Flugzeugen aus zu bombardieren - jede Hilfe war deshalb willkommen. Aber die Prager kannten die zweifelhafte Herkunft dieser Russen, deren Oberbefehlshaber Vlasov im November 1944 von Karl Hermann Frank empfangen worden war, als in Prag die Gründung eines Komitees zur Befreiung der Völker Russlands unter der Schirmherrschaft führender Vertreter der Nationalsozialistischen Besatzer und der SS stattfand. Kein Wunder, dass die in Wehrmachtsuniformen gekleideteten russischen Soldaten in Prag einige Verwirrungen auslösten. Für Aufklärung sorgte u.a. der Rundfunk:
"Die Nacht hindurch und am frühen Morgen hat der Prager Rundfunk den vaterländischen Kämpfern Informationen vermittelt, die die Truppen von General Vlasov betreffen. Diese Truppen kämpfen auf unserer Seite und sind in deutsche Uniformen gekleidet, die mit Trikoloren in den slawischen Farben gekennzeichnet sind. Auf ihren Panzern befinden sich die tschechoslowakische Fahne und weisse Streifen. An ihren Mützen haben die Soldaten ein ovales Abzeichen. Auf den linken Arm ihrer Wehrmachtuniform sind die grossen Buchstaben POA genäht. Achtung! Diese Soldaten kämpfen auf unserer Seite."
Am 6. und 7.Mai griffen die Vlasov-Soldaten in Prag aktiv ein und halfen den Aufständischen enorm - unter anderem besetzten sie den Flughafen in Ruzyne, von wo aus die deutschen Bomber gestartet waren. Von der Prager Bevölkerung wurden diese Russen als Befreier gefeiert, denn sie haben mit Sicherheit einigen Pragern das Leben und Prag vor grösseren Zerstörungen gerettet, doch der Tschechische Nationalrat weigerte sich, die russischen Soldaten in Wehrmachtuniformen als ihre Verbündeten zu akzpetieren und sie damit als gleichberechtigte antifaschistische Kämpfer anzuerkennen. Zu gross war die Angst vor dem sowjetischen Verbündeten, dessen Soldaten jede Stunde in Prag erwartet wurden. Am Abend des 7. Mais verkündete der Tschechische Nationalrat im Rundfunk seinen Standpunkt:
"Der Tschechische Nationalrat verkündet, dass die antideutsche Aktion des General Vlasov eine eigene Angelegenheit dieser Einheiten ist und der Tschechische Nationalrat keine politischen Abkommen mit ihnen abgeschlossen hat. Die Kooperation der militärischen Aktionen gegen die Nazis unterliegt den militärischen Stäben des Tschechischen Nationalrats."
Zur Erklärung ihrer Situation hatten die Vlasov-Soldaten Plakate in Prag aufgehängt. Ausserdem forderten sie, dass im Rundfunk ihre Erklärung in drei Sprachen verkündet werden sollte. Ein Bevollmächtiger von Präsident Benes hatte den Nationalrat gewarnt, mit Zitat: "diesen Verrätern, die sich in letzer Sekunde retten wollen", Verhandlungen aufzunehmen. So wurde den russischen Soldaten in Wehrmacht- Uniform gedankt, doch nicht geholfen.
Nach den gescheiterten Verhandlungen mit dem tschechischen Nationalrat zogen die russischen Soldaten in der Nacht zum 8. Mai aus Prag Richtung Westen ab - in der Hoffnung, die amerikanische Armee rechtzeitig zu erreichen. Am 9. Mai verhandelte Vlasov mit Befehlshabern der US-Armee in Pilsen, doch die Amerikaner hielten sich an zuvor mit der Sowjetunion geschlossene Abkommen: alle russischen Soldaten der Befreiungsarmee wurden an die Rote Armee ausgeliefert. Die meisten von ihnen landeten nach kurzen Prozessen in sibirischen Arbeitslagern. Elf Befehlshaber aber wurden im August 1946 in Moskau hingerichtet - unter ihnen waren auch General Andrej Vlasov und Sergej Bunjacenko, der "Befreier von Prag". 300 Vlasov-Soldaten waren während ihrer zweitägigen Beteiligung am Kampf um Prag gefallen.
Am 8. Mai traf in Prag die Nachricht von der bedingslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht ein. Am gleichen Tag unterzeichnete der Befehlshaber der Wehrmacht in Prag die bedingungslose Kapitulation seiner ihm unterstehenden Truppen. In dieser wurde den deutschen Soldaten der Abzug Richtung Westen in amerikansiche Kriegsgefangenschaft erlaubt. Der Prager Rundfunk verbreitete die Meldung:
"Wir weissen erneut darauf hin, dass die deutschen Truppen und SS-Gruppierungen sofern sie nach der Kapitulation in Frieden abziehen, weder angegriffen noch irgendwie in ihrem Abzug behindert werden dürfen."
In den frühen Morgenstunden des 9. Mais trafen schliesslich die ersten Einheiten der Roten Armee in Prag ein. An jenem Tag fanden die letzten kleinen Gefechte in Prag statt - die böhmische Hauptstadt war nach über 6 Jahren wieder frei. Die Prager Bürger feierten ihre Befreiung und ihre Befreier. Noch immer etwas verwirrt darüber, wer nun alles beteiligt war, liessen sie Stalin und Vlasov in Sprechchören hochleben. Noch heute ist es schwer, ein Urteil über General Vlasov und seine Truppen zu fällen. Ihre Hilfe beim Prager Aufstand war gross, verfügten sie doch im Gegensatz zu den Tschechen über schwereres Geschütz und Panzer, so dass sie wohl zurecht als Mitbefreier von Prag gelten dürfen. In ihrer russischen Heimat aber ist eine Beurteilung nicht so einfach. Für die einen sind sie Landesverräter für die anderen Helden, da sie als erste den bewaffneten Kampf gegen Stalin und damit das kommunistische Regime wagten, nur leider auf der falschen Seite.