Herma Kennel: "BergersDorf" - Das Buch über Besatzung und Vertreibung in den Jahren 1939 - 1945

Herma Kennel: BergersDorf, Prag: Vitalis, 2003

Anfang Juni ist im Prager Vitalis-Verlag ein Buch erschienen, das gerade aus seiner sehr persönlichen Perspektive heraus einen Beitrag zur allgemeinen Diskussion über das tschechisch-deutsche Verhältnis leisten kann. Das Buch, von dem die Rede ist, heißt BergersDorf, seine Autorin heißt Herma Kennel. Gerald Schubert hat mit ihr gesprochen und zu "BergersDorf" den folgenden Kultursalon gestaltet:

Herma Kennel: BergersDorf,  Prag: Vitalis,  2003
Persönliche Perspektiven oder der Blick aufs Konkrete kommen in den öffentlichen Debatten über die tschechisch-deutschen Beziehungen ohnehin häufig zu kurz. Von vergangenem Unrecht geprägt, von gegenwärtigen Interessen geleitet, aber auch von optimistischen Aussichten auf eine gemeinsame europäische Zukunft getrieben, haben diese Debatten allzu oft eines gemeinsam: Sie verführen zur Verallgemeinerung. Zur Suche nach einem gemeinsamen Nenner, nach gemeinsamen Bewertungen der Geschichte, nach gemeinsamen Zielen.

In der Politik ist genau das auch wesentlich. Die Literatur jedoch kann es sich leisten, den Einzelfall unter die Lupe zu nehmen, ohne ihn damit automatisch aus dem größeren Zusammenhang zu reißen. Herma Kennel isoliert in ihrem Roman "BergersDorf" zwar Zeit und Ort, gleichzeitig fügt sie damit aber der tschechisch-deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Geschichte von Besatzung, Tyrannei und Vertreibung, in ihrer Gesamtheit einen neuen Mosaikstein hinzu.

Die Autorin blickt dabei ganz konkret auf ein Dorf in der böhmischen, früher überwiegend deutschsprachigen Iglauer Sprachinsel, auf Bergersdorf nämlich, und auf die dortigen Geschehnisse in der Zeit von 1939 bis 1945. Dass ausgerechnet Bergersdorf zum Gegenstand ihrer Betrachtungen wurde ist kein Zufall: Der Großvater ihres Mannes war dort Bürgermeister. Um mehr über das als "Tatsachenroman" bezeichnete Buch und seine Entstehungsgeschichte zu erfahren, hat Radio Prag mit Herma Kennel das folgende Gespräch geführt:


Frau Kennel, erzählen Sie doch kurz unseren Hörerinnen und Hörern etwas über die Geschichte dieses Buches. Woraus hat sich denn die Idee entwickelt, dieses Buch zu schreiben, und worum geht es in den Grundzügen?

"Ich war zum ersten Mal im August 1996 in der Tschechischen Republik. Meine Schwiegermutter stammt aus einem Ort im Landkreis Iglau. Sie wollte wieder die alte Heimat sehen, und wir sind mit ihr für einen Tag in die ehemalige Iglauer Sprachinsel gefahren. Ich habe mir dann am nächsten Tag überlegt, dass ich darüber eine Geschichte schreiben könnte. Über die Deutschen, die damals in der Iglauer Sprachinsel gelebt haben. Über das Dorf, in dem meine Schwiegermutter geboren wurde und aufgewachsen ist. Ich wollte die Geschichte ihrer Familie schildern, und die Geschichte ihres Vaters, der Bürgermeister dieses Dorfes war. Es handelt sich um das Dorf Bergersdorf, heute Kammena. Ich habe dann auch recht bald mit den Recherchen begonnen. Ich habe Zeitzeugen besucht, war im Bundesarchiv Berlin, im Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart, habe den 'Mährischen Grenzboten' aus den Jahren 1938 bis 1942 eingesehen. Und ich war später auch in anderen Archiven, um darüber so viel wie möglich zu erfahren."

Sie haben gesagt, dass Sie 1996 mit Ihrer Schwiegermutter zum ersten Mal in der Tschechischen Republik waren. Was war denn das am Anfang für ein Gefühl, sich plötzlich so intensiv mit dieser Thematik von Besatzung und Vertreibung auseinander zu setzen, und zwar in einem Gebiet, in dem Sie sich zumindest geographisch und auch sprachlich gar nicht so gut zurecht gefunden haben. War das etwas, was Ihnen Schwierigkeiten bereitet hat, oder war das umgekehrt vielleicht auch etwas, was für Ihren schriftstellerischen Anspruch gar nicht so schlecht war, weil Sie weitgehend unbelastet von Vorurteilen waren und die Dinge von der Pieke auf recherchieren mussten?

"Ja, ich konnte ganz frei und unbelastet an die Sache herangehen. Ich selbst stamme aus Rheinland-Pfalz, an der französischen Grenze. Und gerade weil ich nichts darüber wusste, habe ich es als Herausforderung empfunden, mich mit dieser Sache zu befassen und auseinander zu setzen. Ich wollte so viel wie möglich erfahren. Dass ich dann so viel erfahren würde, hatte ich jedoch nicht gedacht. Ich hatte nicht gewusst, was mich erwarten wird. Und dass es ein so großes und umfangreiches Thema werden würde, das war mir auch nicht bewusst. Und vielleicht war das auch ganz gut so."

Dennoch: Ein Buch muss einen Anfang und ein Ende haben. Ihr Buch hat ungefähr 350 Seiten. Wie ist denn der zeitliche Rahmen, in dem sich die Handlung des Buches entwickelt? Und können Sie ungefähr die Struktur darstellen, in der Sie das Ganze aufgebaut haben?

"Mein Buch beginnt mit dem März 1939 und endet im Mai 1945. Konkret beginne ich mit dem 13. März 1939, als Provokationen der Volksdeutschen gegen die tschechische Bevölkerung stattgefunden haben. Ich schildere dann den Einmarsch, den Jubel der meisten Volksdeutschen über die 'Befreiung'. Und ich schildere, was in diesem Dorf passiert ist, und auch in der nahegelegenen Kreisstadt Iglau, heute Jihlava. Etwa das Attentatsvorhaben auf Adolf Hitler, der am 16. und 17. März 1939 nach Iglau kommen sollte - das Attentatsvorhaben, das verraten worden ist. Ich schildere den Brand der Synagoge, Ende März 1939, und die Verhaftung des tschechischen Müllers durch die Gestapo 1941. Ich schreibe von Gottlob Berger, dem Chef des SS-Hauptamtes Berlin, der zu Besuch kommt und Bergersdorf zu 'seinem Dorf' erklärt, von der Beziehung zwischen Gottlob Berger und dem Bürgermeister, und von den Gesprächen, die zum Teil fiktiv sind, aber die so gewesen sein hätten können. Ich schildere, wie Berger eben 1943 Bergersdorf zum SS-Dorf erklärt. Im Verlauf des Krieges verfinstert sich die Szenerie. Die jungen Männer fallen. Die Bergersdorfer, oder überhaupt die Volksdeutschen, sind enttäuscht von den Reichsdeutschen, die gute Positionen einnehmen - wobei sie selbst sich von den Reichsdeutschen nicht für voll genommen, nicht für ernst genommen fühlen. Und wie gesagt: Mein Buch verfinstert sich im Verlauf des Krieges, und zum Schluss wendet sich das Blatt. Die Lichtseiten der einen werden dann zu den Schattenseiten der anderen. Das Buch endet mit den Gräueltaten von Mitgliedern einiger revolutionärer Garden gegenüber den Deutschen."

Als Sie Ihre Recherchen unternommen haben - Sie haben schon gesagt, Sie haben teilweise in Archiven und Bibliotheken geforscht, aber Sie haben auch Zeitzeugen befragt - ist Ihnen da im Umgang mit Zeitzeugen oder mit anderen Menschen, die sich heute dazu geäußert haben, besonderes Interesse entgegengekommen, oder manchmal vielleicht auch besondere Ablehnung? Welchen Zugang haben Ihrer Meinung nach die Leute heute zu dem Thema? Ist das eher so, dass sie nicht in der Vergangenheit rühren wollen, oder ist es umgekehrt so, dass sie ganz froh darüber sind, dass endlich mal jemand fragt?

"Das ganze Spektrum war vorhanden! Die meisten waren sehr froh, dass sich jemand mit Bergersdorf befasst, mit der damaligen Zeit, und haben auch sehr gerne und bereitwillig erzählt. Andere waren sehr vorsichtig, oder haben nur das positive erzählt. Also - ich zitiere jetzt - 'unter den Nazis war alles gut, aber hinterher war es schlecht'. Zitat Ende. Das hat mich sehr erschüttert, dass einige heute noch dieser Ansicht sind. Man kann mit ihnen auch nicht diskutieren. Und dann gab es noch ein Extrem: Sobald ich kritische Fragen zum Nationalsozialismus gestellt habe, haben sich einige abgewendet, oder sie haben gesagt, ich gehörte zur 'umerzogenen Generation', bei der zwanzig Jahre Propaganda von der falschen Seite ihre Spuren hinterlassen haben."


Der Roman "Bergersdorf" beschreibt Gräueltaten von beiden Seiten - deutsche Tyrannei ebenso wie anschließende Gewalt an Deutschen. Gewidmet ist es, wie es eingangs heißt, "allen unschuldigen Opfern politischer Gewalt in Böhmen und Mähren". Ihr Buch, so die Autorin, solle ein Beitrag sein zur Versöhnung von Tschechen und Deutschen.

Für alle Interessierten nochmals die bibliographischen Angaben: Herma Kennel: "BergersDorf" Prag: Vitalis, 2003