Gespräch mit dem Historiker Jan Pauer über die Situation in der Tschechoslowakei nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten
Im nachfolgenden Beitrag erinnert sich der Historiker Jan Pauer an die Stimmung in Prag nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten im August 1968. Jan Pauer hat die Tschechoslowakei 1969 verlassen und lebt seitdem in der Bundesrepublik. Anfang der 1990er Jahre war er in der von der Prager Regierung eingesetzten Historikerkommission tätig, die die Ereignisse in der früheren Tschechoslowakei in den Jahren 1967-1971 erforschte. Seit 1993 arbeitet Jan Pauer als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen. Silja Schultheis hat ihn gefragt, in welchem Moment für ihn die Entscheidung fiel, ins Ausland zu gehen.
Pauer: "Das Erlebnis der Okkupation des Landes, der unglaublichen Solidarität im August 1968 - das gehört zu jenen sehr seltenen historischen Momenten, die nicht alle erleben und bei denen man von Glück reden kann, sie erlebt zu haben. Es herrschte eine ganz andere Alltagsstimmung, eine Solidarität, man spricht mit fremden Menschen. Es war hoch emotionalisiert und man fühlte sich irgendwie verpflichtet, noch gemeinsam Widerstand zu leisten. Und erst in dem Moment, als deutlich würde, dass die politische Führung nach und nach auf die Moskauer Linie umschwenkt und als z.B. der damalige Regierungschef Cernik - Symbol des Reformkurses - plötzlich im Fernsehen log und alle wussten, dass er log und er selbst auch - das hat junge Menschen natürlich sehr aufgewühlt. Hinzu kam, dass ich dachte, mit meiner politischen Einstellung und der damaligen Kompromisslosigkeit hätte ich eigentlich kaum Möglichkeiten gehabt, etwa zu studieren, ich hätte zum Militär gehen müssen. All solche Aspekte haben dann zwischen 1968 und 1969 dazu geführt, dass ich mir vorstellen konnte, im Westen zu leben. Auf jeden Fall war es damals noch möglich, legal auszureisen und man hat so etwas wie eine offene Tür gehabt."
Schultheis: "Haben Sie das damals als eine Ausreise auf Zeit gesehen?"
Pauer: "Ich wollte es, aber de facto war dann sehr rasch klar, dass es eine endgültige Entscheidung gewesen ist und die hat eine persönliche Dramatik gehabt, das ist klar, wenn man Familie und Freunde auf unabsehbare Zeit verlässt und nicht mehr normal mit ihnen kommunizieren kann."
Schultheis: "Haben Sie nach 1989 daran gedacht, wieder nach Prag zurückzugehen?"
Pauer: "Ich bin sofort zurück gefahren. Und die plötzliche Einfachheit, von Hamburg nach Prag zu kommen, war atemberaubend. Früher war das auf einem anderen Planeten und nicht erreichbar. Und jetzt war es plötzlich so einfach, dass man die Frage der Rückkehr gar nicht so drastisch stellen musste. Zumal ich hier auch familiär verankert bin. Und ich dachte, man kann jeder Zeit in Prag sein, dort etwas unternehmen, arbeiten. Also, die Dringlichkeit einer Rückkehr schien mir gar nicht gegeben zu sein."
Silja Schultheis im Gespräch mit dem Historiker Jan Pauer, der sich mit den Ereignissen von 1968 später auch wissenschaftlich intensiv auseinandersetzte. 1995 veröffentlichte er in Deutschland ein Standardwerk zu dem Thema, unter dem Titel: "Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes. Hintergründe - Planung -Durchführung." Mehr dazu können Sie am Dienstag, den 19. August, in unserer Reihe "Forum Gesellschaft" erfahren, in der wir ein ausführliches Gespräch mit Jan Pauer senden.