Auf den Spuren des literarischen Brünn - studentische Stadtführung zu den verborgenen Seiten der mährischen Metropole
Die Grenzen der Universität überschreiten und die Geschichte ihrer Stadt entdecken und vermitteln, das wollen eine Reihe junger Germanistik-Studenten aus Brno / Brünn. Mit einem literarischen Stadtspaziergang durch Brünn beleuchten sie nicht nur einen zu unrecht vernachlässigten Aspekt in der Geschichte der mährischen Metropole, sondern ziehen zugleich einen Schnitt durch das tschechisch-deutsch-jüdische Mit- und Gegeneinander in Brünn im 20. Jahrhundert. Mehr über engagierte Studenten und das literarische Brünn erfahren Sie im folgenden Forum Gesellschaft von Thomas Kirschner.
"Zum einem sind diese Autoren alle geprägt worden durch den nationalen Gegensatz oder auch das nationale Miteinander von Deutschen und Tschechen hier in Brünn. Das zweite gemeinsame Element, wieder bei deutschen wie tschechischen Autoren ist, dass Brünn häufig nur die Stadt der Kindheit und Jugend war. Viele haben nach der Schule, nach der Gymnasialzeit Brünn verlassen, in Richtung Wien, Prag oder Berlin und blicken dann in ihren Werken auf die Stadt zurück - je nachdem nostalgisch, ironisch oder verklärend."
Es würde sich lohnen, die Geschichte Brünns als Kindheitsort zu schreiben - auf tschechischer Seite kämen etwa Milan Kundera und Bohumil Hrabal darin vor, von den Brünner Deutschen beispielsweise der Lyriker Richard von Schaukal und Ernst Weiß, der später zu dem Prager Kreis um Max Brod und Franz Kafka gehörte. Und schließlich hat Robert Musil hier seine Schul- und Universitätsjahre verbracht und der Stadt seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ein Denkmal der Weltliteratur gesetzt. Weltberühmt war seinerzeit auch ein anderer Brünner - seine kräftige Stimme setzt sich noch heute spielend gegen den Baustellenlärm der Stadt durch.
"Diese einzige Stimme, die heute für alle deutlich zu verstehen war, gehört einem Opernsänger der hier im Brünner Stadttheater im Jahre 1896 als Lohengrin in der gleichnamigen Oper von Richard Wagner debutiert hat. Sein Name ist Leo Slezak. Als der zehnjährige Leo wegen seiner berüchtigten Späße de Realschule in Brünn bereits nach der vierten Klasse verlassen musste und sich danach als Gärtnerlehrling und Schlosser versuchte, konnte noch niemand ahnen, dass derselbe Leo ein paar Jahre später zu den berühmtesten Tenören der Welt gehören wird. Seine Karriere als Sänger verdankte er mehr oder weniger dem Zufall. Der berühmte Bariton Adolf Robinson hörte Leo, der als Statist alle Chorstellen lauthals mitsang, und er nahm ihn als seinen Schüler auf. Die erste große Gelegenheit bekam der junge Künstler gerade hier am Brünner Stadttheater."
In die literatische Stadtführung findet Leo Slezak aber dank seiner humoristsch-anekdotischen Erinnerungen Eingang, die ihm einen großen Erfolg brachten. Berühmt wurde er vor allem mit seinem ersten Buch, das zugleich für seinen lakonischen Witz kennzeichnend ist. Der Titel lautet schlicht "Meine sämtlichen Werke". Während Slezaks Brünner Jahre noch in die österreichisch-ungarische Monarchie zurückdatieren, brachten die braunen Wolken, die sich in den 1930er Jahren über Deutschland zusammenzogen, neue Menschen in die Stadt: Deutsche Nazi-Gegner, die in der Tschechoslowakei, der letzten verbliebenen Demokratie Mitteleuropas, Zuflucht suchten und fanden.
Zentrale Figur der Brünner Emigrantenszene war der bayrische Schriftsteller Oskar Maria Graf. Die Nationalsozialisten hätten den urtümlichen Lederhosenträger gerne für sich vereinnahmt. Der aber ließ keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stand. In einem offenen Brief mit dem Titel "Verbrennt mich!" bekannte sich Graf zu der in NS-Deutschland verfolgten und verbrannten Literatur und wählte freiwillig das Brünner Exil. Nach den Spuren Grafs suchen auch die Teilnehmer der heutigen Führung, Mitglieder der Münchener Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft. Denn in den Jahren des Brünner Exils von 1934 bis 1938 hatte Graf in der Stadt eine zweite Heimat gefunden, erklärt Harald Grill von der Graf-Gesellschaft:
"Hier in Brünn war er vier Jahre und er spricht immer davon, dass es eine seiner schönsten Zeiten überhaupt war. Und da war es für uns wichtig, dem einmal nachzugehen: Wie es ausschaut in Brünn, was dort für eine Landschaft ist - einfach diese sinnliche Erfahrung."
Auch wenn die Germanistik-Studenten schon durch ihr Fach den Schwerpunkt auf deutschsprachige Autoren gelegt haben, wollen sie in der Stadtführung vor allem das Mit- und Nebeneinander der tschechischen und deutschen Literatur in Brünn zeigen. Zu der jüngeren tschechischen Generation gehört etwa der 1940 geborene Jiri Kratochvil, einer der profiliertesten Brünner Autoren der Gegenwart. Seine Biographie ist ein Beispiel für die Unterdrückung unliebsamer Schriftsteller durch das kommunistische Regime der Tschechoslowakei, erläutert als Stadtführer Martin Karlik:
"Er hat gearbeitet zum Beispiel als Lehrer, Bibliothekar, Archivar, Kranfahrer, Nachtwächter - das war die Arbeit, die auch andere regimekritische Schriftsteller machen mussten - als Heizer, wie auch Vaclav Havel. Das war Arbeit für die Leute, die dem Sozialismus nicht sympathisch waren. Und alle seine Werke, die er vor der Wende geschrieben hat, konnten nur im Samizdat erscheinen."
Brünn ist immer wieder Schauplatz und auch Held von Kratochvils Büchern, so etwa das funktionalistische Hotel Avion, das ihm als Inspiration für seinen gleichnamigen Roman diente. Spannend sei es nun, der Literatur in der Wirklichkeit zu begegnen, meint als Teilnehmer der Führung der Publizist Bernhard Setzwein von der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft:
"Ich habe den Eindruck, wir alle miteinander sind Freunde der literarischen Topographie, das heißt, wir lieben es, die Lektüreeindrücke mit den Realien zu vergleichen. Und das war auch wunderschön in dieser Führung, die da von den Studenten veranstaltet wurde, dass man die Orte selber sieht und erlebt."
Für das Erleben sorgte auch die einfallsreiche Präsentation der Studenten. Kristina Poljakova stellt den Biographen und Kinderbuchautor Peter Härtling vor, für den Brünn in den 1940er Jahren ebenfalls ein prägender Ort seiner Kindheit war. In mehreren Romanen erinnert er sich an die Atmosphäre der Stadt, wie er sie mit Kinderaugen erlebt hat.
"Oft spricht er von einer Oblatenbäckerei, die einen besonderen Duft hätte, einen Nussknackeratem, und dass der Duft von Anis, Ingwer und Zimt auch in dem nahe liegenden Park zu riechen gewesen sei. Ich bitte jetzt meine Assistenten: Die haben ´Schnupperelemente´ bei sich und auch Oblaten, die sie probieren können, damit Sie auch diesen Duft mitbekommen und schwelgen wie der kleine Schuljunge Peter Härtling."
Peter Härtling ist es auch, der der mährischen Stadt in seinem Roman "Nachgetragene Liebe" eines der schönsten literarischen Denkmale gesetzt hat - ein würdiger Abschluss für einen Entdeckungsreise durch die Topographie Brünns.
"Für Peter Härtling ist ´Brünn die Stadt, die in meinem Kopf zum Inbild aller Städte wird, auch später durch keine andere ersetzt worden ist, mit ihren von Kinderaugen geweiteten Plätzen und Parks standhält gegen Prag, Wien, Berlin, Paris oder London.´"
Der literarische Stadtspaziergang durch Brünn kann nach Absprache jederzeit für Reisegruppen angeboten werden. Ansprechpartner ist der Brünner DAAD-Lektor Winfried Adam ([email protected]).