Die Gräfin von Kunín und das „Philanthropium“

Marie Walburga Gräfin von Truchsess-Walburg-Zeil

Während der Aufklärung wurde Bildung zu einem hohen Gut. Noch waren die Chancen zum gesellschaftlichen Aufstieg aber sehr unterschiedlich verteilt. Ende des 18. Jahrhunderts entstand auf dem Barockschloss Kunín unweit des nordmährischen Nový Jičín / Neutitschein aber eine besondere Schule – das Philanthropium. Es ist das Projekt der damaligen Gräfin. Im Folgenden ein Porträt der besondere Frau, die sich vielseitiger Bildung und religiöser Toleranz verschrieben hatte.

Schloss Kunín  (Foto: Bosquete,  Wikimedia Commons,  Public Domain)
Marie Walburga Gräfin von Truchsess-Walburg-Zeil, geborene von Harrach-Hohenems. So der Adelstitel der Dame, deren Vorfahren eine bedeutende Spur in der mährischen Gemeinde Kunín, damals Kunewald, hinterlassen haben. Das Barockschloss wurde nach Plänen des berühmten österreichischen Architekten Johann Lucas Hildebrandt gestaltet.

Schon zu ihren Lebzeiten war die Schlossherrin hoch geachtet. Auf ihrem Gut nannte man sie „unsere gute Gräfin“. 1779 heiratete sie mit 17 Jahren Graf Clemens von Truchseß-Waldburg-Zeil, dieser diente zu jener Zeit als Offizier in der kaiserlichen Armee. Das Schicksal beschied ihnen allerdings kein Familienglück. Jaroslav Zezulčík, studierter Historiker und langjähriger Kastellan von Schloss Kunín:

Marie Walburga Gräfin von Truchsess-Walburg-Zeil
„Als junge Mutter verlor die Gräfin drei Töchter. Wie Porträtbildern zu entnehmen ist, starben sie im Alter zwischen einem und zwei Jahren. Nach dem Tod der dritten Tochter begann Marie Walburga unter Depressionen zu leiden und wollte selbst aus dem Leben scheiden. Ihre Ehe ging in die Brüche. Der Vater ihrer Kinder, Clemens Waldburg-Zeil, verließ sie und nahm das letzte lebende Kind auf sein Schloss Zeil in Schwaben mit. Franz Karl Wunibald, so sein Name, hält auf seinem Porträt in der Schlossgalerie ein Notenblatt in der Hand. Der talentierte Sohn verfasste schon im jungen Alter Theaterstücke, komponierte Musik und sprach mehrere Fremdsprachen. Die Gräfin organisierte seine Entführung aus Schwaben, ihr Plan wurde jedoch verraten. Der Sohn starb mit 18 Jahren nach einem Sturz vom Pferd.“

Ehe geht zu Bruch

Nach einiger Zeit konnte die Gräfin die schwierige Phase ihres Lebens endlich überwinden. Sie verließ den Hof in Wien und zog sich nach Kunín zurück. In der Habsburger Monarchie erfreute sich die gebildete Frau hoher Anerkennung, sie galt dort als eine der bedeutendsten weiblichen Persönlichkeiten der Aufklärungszeit. Trotzdem oder vielleicht deswegen fand sie den Sinn ihres Lebens in der Wohltätigkeit zugunsten von Kindern. In ihrer Landresidenz rief die Gräfin ein einmaliges Projekt ins Leben. 1792 gründete sie im Alter von 30 Jahren eine Bildungsanstalt mit dem Namen „Philanthropium“. Besonders hervorzuheben sei das ungewöhnlich hohe Maß an Toleranz an dieser Internatsschule, meint Jaroslav Zezulčík:

Jaroslav Zezulčík  (Foto: Michal Polášek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Talentierte Kinder aus allen Sozialschichten wurden dort zusammen ausgebildet und erzogen. Es waren Jungen und Mädchen im Alter von 5 bis 15 Jahren. Sie kamen aus Familien von Leibeigenen und Adeligen, sie waren katholischen, protestantischen oder jüdischen Glaubens und sprachen Tschechisch oder Deutsch. Alle mussten sich allerdings an strenge Regeln halten. Der Unterricht begann um 5 Uhr morgens und dauerte bis 19 Uhr abends. Von Montag bis Samstag standen unterschiedliche Fächer auf dem Stundenplan: Mathematik, Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Geschichte, Heimatkunde, Musik und Zeichen. Der Unterricht fand oft unter freiem Himmel statt. Im Schlossgarten des Philanthropiums betrieben die Schüler auch als erste in Mähren Gymnastik. Die Gräfin unternahm mit ihnen zudem zwei- oder dreiwöchige Ausflüge in die Natur, wobei die Kinder in Zelten campierten. Ziele waren zum Beispiel die Burgruine Helfenstein oder die Beskiden-Berge Lysá hora und Radhošť.“

Schüler der Schlossschule  (Foto: Archiv des Museums in Nový Jičín)
In der Schule wurde auch auf gesunde Ernährung geachtet, und die Kinder sollten sich abhärten.

Unter anderem ging eine berühmte Persönlichkeit der tschechischen Geschichte für einige Zeit auf das Internat:

„Es war der spätere Historiker František Palacký. Er gilt heute als Begründer der modernen tschechischen Historiografie und ‚Vater der tschechischen Nation‘. Während der Weihnachtszeit 1807 wurde der damals neunjährige Palacký von seinem Vater, dem lutherischen Lehrer im nahe gelegenen Hodslavice, nach Kunewald an die Bildungsanstalt gebracht. In seiner Autobiographie bezeichnete der Historiker die zwei in Kunín verbrachten Jahre später als ‚eine schöne Frühlingszeit meines Lebens‘.“

Starken Einfluss auf die Gründung der Schule hatte die Freimaurerloge im südmährischen Brünn, aber mehr noch die sogenannten Illuminaten. Die Mitglieder dieses Geheimordens galten als große Verfechter der Philanthropie, besonders in der Pädagogik. Ihrer Auffassung nach sollte Bildung auch sittliche Grundsätze vermitteln. Die Gräfin nahm dabei die Erziehungsanstalt „Philanthropin“ im thüringischen Schnepfenthal zum Beispiel. Die Schule in Kunín machte bald als eine der besten Bildungsstätten im damaligen Mitteleuropa von sich reden. Die breitgefasste Kinderbetreuung, so Zezulčík, wurde zum neuen Lebenskonzept der früher deprimierten Frau.

Vorbild Schnepfenthal

Johann Heinrich Pestalozzi  (Quelle: Wikimedia Commons,  Public Domain)
Marie Walburga reiste auch wiederholt ins Ausland, zum Beispiel nach Südfrankreich, Italien und in die Schweiz. Dabei diskutierte sie unter anderem intensiv mit dem Schulreformator Johann Heinrich Pestalozzi. Und sie kaufte Landkarten, Kupferstiche, physikalische Apparate, Minerale für das Naturalienkabinett und Ähnliches mehr für ihre Schlossschule. Zudem soll die Bibliothek, die sie anlegte, 20.000 Bände umfasst haben. Ein Teil davon war pädagogische Literatur. Eine andere Herkunft haben indes jene literarischen Werke, die heute im Großen Schlosssaal stehen:

„Hier wird der älteste Teil unserer Schlossbibliothek aufbewahrt. Es handelt sich um die Familienbibliothek der Hohenems. Die Handschriften stammen aus dem Besitz der mächtigsten Angehörigen dieses Adelsgeschlechts. Ihre Portraits hängen bei uns im großen Schlosssaal. Sachkennern zufolge dürfte diese Sammlung zu den ältesten Bibliotheken gehören, die in der Region um den Bodensee angelegt wurden. Möglicherweise entstand sie nach der Klosterbibliothek von St. Gallen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden sich hier in Kunín derartige Unikate wie die zwei ältesten Handschriften des Nibelungenlieds. Doch sie wurden zu Lebzeiten von Schlossbesitzerin Gräfin Marie Walburga verkauft. Derzeit wird eines der Exemplare in der königlichen Bibliothek in München aufbewahrt. Das andere, das sich eine Zeitlang im Besitz der Fürstenbergs in Donaueschingen befand, hat diese Familie vor kurzem an den deutschen Staat verkauft“, so der Kastellan.

Plan für den Sonntagsunterricht  (Foto: Archiv des Museums in Nový Jičín)
Aber warum hat die aufgeklärte Schlossbesitzerin die beiden Handschriften überhaupt verkauft? Es scheint, dass die Gelder für den Schulbetrieb damals knapp geworden sind. Die Gräfin finanzierte ihre Schule rund 20 Jahre lang ausschließlich aus eigenen Mitteln.

Noch vor ihrem Tod allerdings geriet das „Philanthropium“ in Missgunst der Staatsmacht. Es war die beginnende Zeit der Restauration. Vor allem dem Außenminister und späteren österreichischen Staatskanzler Klemens Metternich war die Schule ein Dorn im Auge. Die Unterrichtsmethoden dort würden sich in jeder Hinsicht von jenen an den anderen Bildungsinstitutionen in der Monarchie unterscheiden, ätzte Metternich. 1814 musste die Gräfin daher die Anstalt schließen. Dies geschah auf Beschluss der obersten mährischen Verwaltungsbehörde, des so genannten Guberniums.

Metternich macht Stunk

Die letzten zehn Jahre ihres Lebens war Marie Walburga von Truchsess-Waldburg-Zeil gehbehindert und musste in einem speziellen Korb getragen werden. Sie starb 1828 im Alter von 66 Jahren. Über ihrem Grab ließ der von ihr adoptierte Enkel Friedrich Emil Schindler eine Säulengruft im Empire-Stil errichten. Der Gräfin zu Ehren findet seit Jahren im Schloss Kunín ein bedeutendes Fest statt. Jaroslav Zezulčík:

Josef Kronenberg  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Aus den schriftlichen Erinnerungen eines ihrer Schüler, Josef Kronenberg, haben wir von ihrer großen Vorliebe für Rosen erfahren. Die Gräfin soll buchstäblich besessen gewesen sein. Als Kind war Kronenberg zwar ein Hallodri, später gründete er aber die österreichische Gendarmerie und wurde ihr Kommandant. Er erinnerte sich an die üppige Ausschmückung des Schlosses mit Rosen. Zum Andenken an diese Philanthropin und große Frau, die seinerzeit auch als Erste Dame in Mähren galt, veranstalten wir jedes Jahr ein Rosenfest.“

Dabei binden Floristen große Rosensträuße im Stil mehrerer historischer Epochen, und diese werden dann in zahlreichen Schlossräumen ausgestellt. Das Fest dauert in der Regel eine Woche lang und startet am letzten Septemberwochenende.

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