Vom Absinth-Klub zum Untergrundtheater – das „Les“ in Ostrau

Theatervorstellung „Spolu“ (Foto: Archiv des Klubs Les)

„Schwarzes Ostrau, stählernes Herz des Landes“ – so lautete zu kommunistischen Zeiten der einprägsame Slogan. Und wenn es im mährisch-schlesischen Kohlerevier Kunst gab, dann stand sie damals im Zeichen der Politik. Erst nach der politischen Wende von 1989 haben sich die Kulturschaffenden davon befreien können, vor allem die Theaterszene hat einen rasanten Umschwung erlebt. Seit drei Jahren gehört dazu auch das Untergrundtheater „Les“.

Jiří Štefanides  (Foto: Aleš Spurný,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die Kulturkritiker sprechen seit einigen Jahren von einem Phänomen in der tschechischen Theaterlandschaft. Dass die Bühnen Ostraus einmal angesagt sein würden, das hätte vor 25 Jahren noch kaum jemand gedacht. Jiří Štefanides ist Theaterwissenschaftler an der Palacký-Universität in Olomouc / Olmütz. Im vergangenen Jahr schrieb er in der Fachzeitschrift „Theatralia“:

„Ostrauer Kultur ist eine Wortverbindung, die lange Zeit als unmöglich empfunden wurde. Im November 1989 war Ostrau keine sozialistische Musterstadt, sondern ein unansehnlicher Standort, gezeichnet von 40 Jahren rücksichtsloser sozialistischer Industrialisierung und Ausbeutung nicht nur der Natur, sondern auch der Menschenseelen.“

Vieles habe sich in 25 Jahren zum Besseren gewandelt, konstatiert Štefanides. Gerade das Theater bezeichnet er als besonders dynamisch im Kulturleben der Stadt und daher auch als ein Phänomen.

Große Worte unter fließenden Fäkalien

Přemysl Bureš  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Auf die Ostrauer Theaterbühne Les (Wald) trifft dies besonders zu. Sie ist klein, originell und in relativ kurzer Zeit bekannt geworden. Die Bühne bildet einen Teil des privaten Klubs von Absinth-Trinkern, den 2013 der Schauspieler Přemysl Bureš aus der Taufe gehoben hat. Anfangs war der Ort nur gedacht als Treffpunkt von Theater- und Kunstmachern. Bald aber entschied sich der Besitzer, sein Lokal mit Bühneninszenierungen aufzuwerten. Dafür ließ er den Kellerraum unter seinem Klub umgestalten. „Les“ etablierte sich schnell in der Kulturlandschaft der Stadt. Bureš gewann den renommierten Dramatiker und Stammregisseur am Ostrauer Kammertheater („Komorní scéna Aréna“), Tomáš Vůjtek, als Kompagnon. Das Kellertheater im Absinth-Klub habe ihn auf den ersten Blick begeistert, sagt Vůjtek:

Tomáš Vůjtek  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Was den Theaterraum aus meiner Sicht so magisch wirken lässt, ist, dass sich unterhalb der Decke die Abwasserröhren der benachbarten Kneipe befinden. Es kommt also zu Momente, in denen gerade große Worte ertönen, während über den Köpfen der Zuschauer Fäkalien fließen. So etwas gibt es wohl kaum in einem anderen Theater, doch für mich war es wichtig. Hier kann man im wahren Sinne des Wortes Untergrund-Theater sozusagen mit Mehrwert präsentieren. Manche tragende Idee wird zugleich mit unserem irdischen Dasein konfrontiert, indem das Geistige auch den körperlichen Hintergrund bekommt.“

Theatervorstellung „Spolu“  (Foto: Archiv des Klubs Les)
Es gefalle ihm, so Vůjtek, dort Theater zu machen, wo dies fast nicht am Platze sei. Doch letztlich ließe sich der Raum besiegen. Und dann müsse man zum Schluss kommen, gerade hier Theater produzieren zu wollen. Für die erste Premiere im „Les“ verfasste Vůjtek ein Stück mit dem Titel „Spolu“, also „Gemeinsam“:

„Alles war damals besser, auch die Mode“, sagen in dem Stück die beiden großen Diven des tschechoslowakischen Vorkriegsfilms, Lída Baarová und Adina Mandlová, als sie sich an ihre Heimat erinnern. Bei ihrem fiktiven Treffen planen sie, einen Ausflug in die Tschechoslowakei zu machen, um wieder Filme zu drehen. Die Zuschauer hören dabei viel Authentisches über das Schicksal der beiden Schauspielerinnen. Baarová erzählt zum Beispiel von einer Einladung, die sie in Berlin von Hitler bekommen hatte.

Kämpfen für zwei Filmdiven

Adina Mandlová  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
In den 1930er Jahren drehten Baarová und Mandlová auch Filme in Deutschland. Nach dem Krieg wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten Liebesverhältnisse mit hohen Nazifunktionären gehabt. Während dies im Falle von Mandlová und K.H. Frank nicht nachweisbar ist, hatte Baarová wohl vor der Besetzung der Tschechoslowakei eine Affäre mit Joseph Goebbels. Beide Diven wurden jedenfalls verhaftet und der Kollaboration beschuldigt. Die tschechische Boullevardpresse nannte sie „Nazihuren“. Nach der Freilassung aufgrund mangelnder Beweise gingen beide Schauspielerinnen in die Emmigration.

„Es war gut, dass ich verhaftet wurde. Mag sein, dass man mich vielleicht auch zu Tode gesteinigt hätte“, sagt Baarová und fragt: „Woher kommt so viel Haß? Früher hat man uns doch geliebt.“

Lída Baarová  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Tomáš Vůjtek selbst sieht seine Inszenierung so:

„80 Minuten lang verlassen die Schauspielerinnen nicht die Bühne und kämpfen für die beiden Filmstars, die von ihnen dargestellt werden. Ihre Lebensgeschichten erzählen sie vor dem Hintergrund des damaligen Geschehens, das einen Teil der modernen tschechischen Geschichte bildet. Durch die Verbindung des Textes mit dem echten Untergrund-Raum erhält das Stück eine besondere Dimension. Ich bin bis heute glücklich, dass wir es für das Theater Les einstudieren konnten. Außerdem ist daraus – ich will nicht von einer Kultinszenierung sprechen –, aber ein Phänomen geworden, das wir landesweit exportieren.“

Auch gab es bereits Einladungen zu mehreren Theaterfestivals hierzulande. In diesem Jahr wurde Vůjteks Stück „Spolu“ zum Beispiel im Prager Theater „Na prádle“ aufgeführt. Im Flyer dazu stand unter anderem:

„Die hervorragend aufgebaute, emotionsgeladene Handlung erzählt nicht nur von zwei zur Verdammung verurteilten Frauen, sondern auch von unserer Nation.“

Passionsspiele im Keller

„Ostrauer Passionsspiele oder die Berühmteste Auferstehung“  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Zu einem Event wurden in diesem Jahr auch Vůjteks „Ostrauer Passionsspiele oder die Berühmteste Auferstehung“, gespielt an vier Ostertagen im Les. Tomáš Vůjtek:

„Die Passionsspiele sind ein Pendant zu den Weihnachtsspielen, die im Arena-Theater immer auf dem Programm stehen. Diese Vorstellung im Arena-Theater wird vor allem von Eltern mit Kindern besucht, die sich im Grunde mit Weihnachten auch identifizieren können. Die Geschichte über die Auferstehung Christi hingegen interessiert heutzutage die Mehrheit unserer atheistischen Gesellschaft nicht mehr. Von Anfang an wollte ich, dass Schauspieler womöglich aus allen Ostrauer Theaterhäusern mitmachen. Ohne Anspruch auf Honorar. Dies ist gelungen. Mit dabei waren auch Nicht-Schauspieler, zum Beispiel Literaten, Dichter, Musiker und Journalisten. Bekannte Persönlichkeiten der Ostrauer Underground-Kultur haben Interesse daran geäußert, die Apostel zu spielen. In der Folge hatten wir dann bei der einen oder anderen der vier Vorstellungen nicht nur zwölf, sondern sogar 20 Apostel. Das machte es unmöglich, eine gemeinsame Probe für alle zu organisieren. Wir haben zwar vereinbart, wie die Darstellung einer konkreten Rolle aussehen sollte, doch einstudieren musste sie dann jeder allein. Trotzdem hat es uns allen viel Spaß gemacht. Ich glaube, es war eine Art geistige Bombe.“

„Ostrauer Passionsspiele oder die Berühmteste Auferstehung“  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Die Inszenierung sprach sich schnell in der Stadt herum, und auf einmal wollten viele Leute die Vorstellung besuchen. Der Theaterraum ist aber ziemlich klein. Es war schon ein Problem, wenn sich die Mitwirkenden zum Abschluss gemeinsam beim Publikum bedanken wollten. Man freue sich schon jetzt darauf, die Passionsspiele auch zu Ostern kommenden Jahres zu spielen, so Vůjtek.

Kein Kopfzerbrechen ums Geld

Und wie sieht der preisgekrönte Dramatiker und Regisseur sein unentgeltliches Engagement im Les-Theater?

Im Ostrauer Absinth-Klub ist jeden Abend Programm  (Foto: YouTube)
„Ich kann mir dort meine Träume erfüllen. Im Les geht es um die Underground-Kunst, wie man sie im Rahmen der dortigen Gegebenheiten machen kann. Und auch um die Künstler. Niemand zerbricht sich den Kopf darüber, wieviel Geld man damit verdienen kann. Einziges Kopfzerbrechen bereitet, einen Termin für die gemeinsamen Treffen zu finden.“

Im Ostrauer Absinth-Klub ist jeden Abend Programm. Neben Theatervorstellungen werden zum Beispiel Lesungen abgehalten, Musikkonzerte oder Treffen von Literaten.

Theaternacht
Am 19. November wird das Theater „Les“ wie Dutzende weiterer tschechischer Bühnen seine Tore öffnen. Anlass ist die „Europäische Theaternacht“, in der regelmäßig zigtausende Menschen europaweit auch hinter die Kulissen vieler Theater- und Opernhäuser blicken dürfen. Die Ostrauer Untergrund-Bühne hat dafür ein Happening einstudiert, dem stilgemäß das Thema des Waldes in Shakespeares Dramen zugrunde liegt. „Und wo sonst“, so der Slogan der Vorstellung, „kann man den Shakespearschen Wald besser erleben als gerade in unserem Les.“