Aus Aussig bis zur Atombombe: die Chemikerin Lilli Hornig
In einigen Tagen jährt sich der Atombombenabwurf auf Hiroshima zum 70. Mal. Wissenschaftler forschten ab 1942 in den USA in einem Geheimprojekt zu der schrecklichen Waffe. Praktisch nicht bekannt ist, dass dem Forscherteam auch eine jüdisch-deutschböhmische Chemikerin angehörte: Lilli Hornig, geboren in Ústí nad Labem / Aussig.
„Lilli Hornig stammt aus einer jüdischen Familie, die Deutsch sprach. Ihr Vater wurde in Prag geboren, wuchs aber in Wien auf. Ihre Mutter kam aus Litauen. Nachdem sich die Eltern auf der Hochschule in Deutschland kennengelernt hatten, zogen sie 1916 nach Ústí nad Labem. Erwin Schwenk, der Vater von Lilli Hornig, hatte eine Anstellung gefunden im hiesigen ‚Verein für chemische und metallurgische Produktion‘.“
Lilli Hornig kam 1921 in Aussig zur Welt, in der Dresdner Straße, wie sie in einer Mail für das Museum in Ústí nad Labem geschrieben hat. Dort beschreibt sie auch ihre Erinnerungen, obwohl sie nur die ersten acht Jahre ihres Lebens in der Stadt an der Elbe verbracht hat.„Ihre Erinnerungen sind sehr lebhaft und voller Details. Sie erinnert sich an den Markt in Ústí, wo die Familie frisches Gemüse einkaufte. An die Kunsteisbahn vor dem Haus in der Masaryk-Straße, in dem die Familie wohnte. Gut im Gedächtnis haften geblieben ist ihr auch der Umzug in eine neue Wohnung in einem Haus, das das Chemiewerk für seine Angestellten in der Nähe der Firma bauen ließ. Sie hat auch gesagt, dass ihr Ústí nad Labem als graue Industriestadt mit wunderschöner Umgebung in Erinnerung geblieben ist“, so Martin Krsek.
Keine Arbeit für Ausländer
Doch die Zeit in Nordböhmen war für die Familie von Lilli Hornig auch schwierig. Immer weiter spitzten sich die Feindseligkeiten zwischen Tschechen, Deutschen und Juden zu. Und das lasse sich letztlich auch am Schicksal der Schwenks erkennen, so der Historiker:„Die Eltern von Lilli Hornig behielten nach der Gründung der Republik im Jahr 1918 die österreichische Staatsbürgerschaft, nahmen also nicht die tschechoslowakische an. Sie waren hierzulande also dauerhaft lebende Ausländer. Von allen Seiten wurden sie angegangen, nicht nur von den deutschen Nationalisten, weil sie Juden waren, sondern auch vonseiten des tschechoslowakischen Staates. Letzteres hatte aber weniger mit ihrem jüdischen Bekenntnis zu tun, als eben mit ihrer Staatszugehörigkeit. Letztlich verlor der Vater von Lilli Hornig während der Weltwirtschaftskrise seine Arbeit in der Chemiefabrik. Sie erklärt das damit, dass der Arbeitsplatz ihres Vaters für einen tschechoslowakischen Staatsbürger freigemacht werden sollte.“
Was aber nach dem Verlust des Arbeitsplatzes? Erwin Schwenk nahm eine Stelle beim chemisch-pharmazeutischen Konzern Schering-Kahlbaum an –ausgerechnet in Berlin…„Man muss sagen, dass die Familie die politische Entwicklung ziemlich schlecht vorausgesehen hat. 1929 siedelte sie nach Berlin um und musste 1933 schon wieder fliehen. Erwin Schwenk drohte schon zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft der Transport ins KZ“, sagt Krsek.
Unter dem politischen Druck entschloss sich die Familie zur Emigration – und zwar in die USA. Der engere Teil der Familie rettete sich damit. Doch viele weitere Verwandte von Lilli Hornig, besonders jene aus Polen, überlebten den Holocaust nicht.
Das geheime Projekt in Los Alamos
Die Schwenks jedenfalls zogen nach Montclair in New Jersey, wo die Tochter auch die Schule abschloss. Lilli Hornig trat danach praktisch in die Fußstapfen ihres Vaters. Martin Krsek:„Sie studierte Chemie, und zwar in Harvard. Dort lernte sie auch ihren späteren Mann Donald Hornig kennen, einen bedeutenden Wissenschaftler. Gerade er erhielt 1944 das Angebot, Teil eines geheimen Forschungsprojekts zu werden, das mit dem militärischen Vorgehen der USA zusammenhing. Das Angebot wurde ihm wegen der Geheimhaltung nicht genauer erläutert. Zunächst lehnte Donald Hornig daher ab, und erst bei einer nächsten Runde der Gespräche ließ er sich anwerben, um herauszufinden, worum es geht. Weil das Projekt auf mehrere Jahre angelegt war, sollte er nach Los Alamos in New Mexico umziehen und zwar zusammen mit seiner Familie. Er nahm also seine Frau mit. Lilli Hornig verrichtete dort erst einmal nur Assistenztätigkeiten. Dann aber wurden auch ihre wissenschaftlichen Kenntnisse gebraucht, sie hatte ihren eigenen Forschungsbereich bei der Entwicklung der Plutoniumbombe.“
Manhattan Project hieß das militärische Forschungsvorhaben zur Entwicklung und zum Bau der ersten Atombombe. Wissenschaftlich geleitet wurde es von Julius Robert Oppenheimer, militärisch aber von Colonel Leslie Groves. Es ging darum, die Nuklearspaltung zu einer Kettenreaktion führen zu lassen – und damit der zukünftigen Bombe eine bisher nicht gekannte zerstörerische Energie zu geben. Experimentiert wurde mit dem Plutonium-Isotop Pu-239, aber auch mit dem noch viel gefährlicheren Isotop Pu-240.„Bei der Arbeit an der Atombombe entstand – wie sich später zeigte – völlig berechtigt die Befürchtung, dass Frauen, die mit Plutonium zu tun hatten, Probleme bei einer möglichen Schwangerschaft bekommen konnten. Deswegen wurde Lilli Hornig versetzt in die Abteilung Sprengstoffe. Sie beteiligte sich dann an der Entwicklung des explosiven Mantels der Bombe. Sie war dort bis zum abschließenden Test der Atombombe am 16. Juli 1945 beschäftigt und hat diesen historisch allerersten Test mit dem Namen Trinity auch beobachtet.“
Petition gegen den Einsatz der Bombe
Die Wucht des Atomtests in der Wüste von New Mexico übertraf alle Erwartungen. Zu dem Zeitpunkt war jedoch Deutschland bereits besiegt. Trotzdem wollte die amerikanische Führung die Bombe einsetzen – und zwar gegen Japan, das noch nicht kapituliert hatte. Schon im Frühjahr forderten einige der Wissenschaftler des Manhattan-Projekts, dass Japan vor dem Einsatz gewarnt werden müsste – um Tokyo die Chance zu geben, noch vorher zu kapitulieren. Besonders der Physiker Léo Szilárd, der wie Lilli Hornig 1933 aus Berlin geflohen war, riet von dem Einsatz der Bombe ab. Einen Tag nach dem Trinity-Test verfasste er eine Petition, die letztlich er und weitere 69 Wissenschaftler unterschrieben. Doch es gab auch noch zwei weitere Petitionen ähnlichen Inhalts. Und eine davon hat Lilli Hornig ihren Worten nach unterzeichnet. US-Präsident Truman bekam angeblich jedoch keine der Petitionen zu Gesicht. Sie wurden bis 1961 geheim gehalten.Am 6. August 1945 warfen die Amerikaner eine Uran-Bombe auf Hiroshima ab und drei Tage später eine Plutonium-Bombe wie beim Trinity-Test auf Nagasaki. In Hiroshima starben 136.000 Menschen, in Nagasaki waren es 64.000.
Auch in Ústí nad Labem wird an den 70. Jahrestag der Atombombenabwürfe erinnert. Bisher hatte der Physiker George Placzek aus Brno / Brünn als einziger Mensch aus der Tschechoslowakei gegolten, der an der ersten Atombombe mitgearbeitet hat. Nun also ebenso Lilli Hornig.
„Wir nutzen die Gelegenheit, um auf diese unbekannte, aber dennoch berühmte Frau unserer Stadt aufmerksam zu machen. Das geschieht mit Bildern des amerikanischen Fotografen Paule Saviano, der Lilli Hornig gerade für Tschechien und die Stadt Ústí entdeckt hat. Er hat ihr Foto in seine Dokumentation aufgenommen, die an die Tragödie von Hiroshima erinnert. In der Ausstellung sind zum einen Überlebende des Atombombenabwurfs zu sehen, zum anderen jene Menschen, die an der Entwicklung der Bombe beteiligt waren. Lilli Hornig lebt in den USA, ist über 90 Jahre alt. Wir haben mit ihr per E-Mail kommuniziert, in den Briefen hat sie uns gerade auch ihre Erinnerungen an die Zeit in Ústí nad Labem geschildert“, sagt Historiker Krsek.