Lesezentrale Brünn: Mitteleuropas beste Autoren zu Gast in Tschechien

Foto: Offizielle Facebook-Seite des „Monates der Autorenlesungen“

Jedes Jahr im Juli wird Brno / Brünn zum literarischen Zentrum. Denn es ist der „Monat der Autorenlesungen“, Dutzende Schriftsteller machen sich auf nach Mähren. Was als Festival für tschechische Autoren begonnen hat, ist inzwischen zum Treffpunkt für Schriftsteller aus ganz Mittel- und Osteuropa geworden. In diesem Jahr ist das Gastland die Ukraine. Derzeit finden sich also alle bedeutenden ukrainischen Schriftsteller in Brünn ein – und nicht nur dort. Pavel Řehořík, Mitbegründer des Festivals, gibt Auskunft über die mitteleuropäische Lesetour.

Pavel Řehořík  (Foto: Archiv des Verlags ‚Větrné Mlýny‘)
Herr Řehořík, das Literaturfestival in Brünn feiert in diesem Jahr schon seinen 16. Jahrgang und ist die größte Veranstaltung dieser Art in Tschechien. Wie sahen eigentlich die Anfänge aus?

„Der Monat der Autorenlesungen ist im Jahr 2000 mehr oder weniger als Aktion von Enthusiasten entstanden. Gemeinsam mit meinem Kollegen Petr Minařík hatte ich damals schon den Verlag ‚Větrné Mlýny‘. Dadurch gab es natürlich bereits einige Kontakte zu Schriftstellern. Parallel haben wir als Platzanweiser im damaligen Hadivadlo (H-Theater) in Brünn gearbeitet. Und als in den Sommerferien der Theaterraum leer stand, haben wir uns entschlossen, den ersten Jahrgang auszurichten.“

Damals waren es 31 tschechische Autoren, die einen Monat lang in dem Brünner Theater gelesen haben – inzwischen ist das Festival in ganz Mitteleuropa präsent. Wie ist es zu der Entwicklung gekommen?

“Die Autoren erwartet eine Tournee durch Brünn, Ostrau, Košice, Lemberg und Breslau.“

„Im Laufe der Zeit ist das Festival einfach ins Bewusstsein gerückt und langsam populär geworden, es kamen immer mehr Leute. Darum haben wir 2005 den ersten internationalen Jahrgang ausgerichtet und haben weitere Städte miteinbezogen. Momentan läuft dieses Festival in Brünn, in Ostrau, in Košice, in Lemberg und in Breslau.“

Das heißt, das Festival ist an fünf Orten gleichzeitig präsent?

Foto: Offizielle Facebook-Seite des „Monates der Autorenlesungen“
„In den anderen Städten organisieren wir das natürlich nicht selbst. Wir in Brünn sind nur so etwas wie die Zentrale, ansonsten kümmern sich die Kollegen in den Städten vor Ort darum. Aber das Programm ist identisch. Jedes Jahr gibt es ein Gastland, das heißt, es treten 31 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus einem ausgewählten Land auf. Das waren zum Beispiel schon Kanada, Belarus, aber auch die deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg. Und diese Ehrengäste drehen immer die ganze Runde. Wer also die Einladung annimmt, den erwartet eine Tournee durch alle fünf Städte.“

Oksana Sabuschko  (Foto: Rafał Komorowski,  Wikimedia CC BY-SA 4.0)
In diesem Jahr kommen die Ehrengäste aus der Ukraine. Und wenn man sich das Programm ansieht, dann haben sie wirklich die komplette Bandbreite der ukrainischen Literatur zu Gast…

„Genau. Eröffnet haben wir am 1. Juli in Brünn mit einer Lesung von Oksana Sabuschko. Ich denke, sie gehört zu den berühmtesten und erfolgreichsten Autorinnen der Ukraine, auch zu den am meisten übersetzten. Dann ist da natürlich Sofija Andruchowytsch. Sie hat einen sehr interessanten Roman über Galizien geschrieben, er wird derzeit, soweit ich weiß, auch ins Deutsche übersetzt. Und ihr Vater, Jurij Andruchowytsch, war einige Tage später auch hier. Er ist ja so etwas wie der derzeitige Botschafter der ukrainischen Kultur und Literatur in der Welt. Dann auch Serhan Schadan aus Charkiw, er hat es also sehr nah zu den Krisengebieten in der Ostukraine. Sie alle sind schon in allen Städten aufgetreten, und es war insgesamt sehr erfolgreich.“

“Jurij Andruchowytsch ist derzeit eine Art Botschafter der ukrainischen Literatur in der Welt“

Hat es eigentlich politische Gründe, dass in diesem Jahr die Ukraine das Gastland geworden ist?

„Nein, auch wenn es den Anschein erwecken könnte. Eigentlich hängt das ganze Festival immer irgendwie mit unserer Verleger-Tätigkeit zusammen. Im Jahr 2012 haben wir eine Anthologie von ukrainischen Erzählungen herausgegeben. Sie enthält 55 Texte von 40 Autoren. 25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl sollte das ein Panorama der gegenwärtigen ukrainischen Literatur sein. Schon damals haben wir überlegt, die Ukraine als Gastland einzuladen. Aber mitsamt allen Vorbereitungen dauert es einfach länger, bis sich das realisieren ließ. In der Zwischenzeit kam es dann zu den unglücklichen Ereignissen in der Ukraine, und die Wahl erhielt eine politische Konnotation. Aber ursprünglich hatten wir keinerlei politische Absichten.“

Wie wird eigentlich generell die ukrainische Literatur in Tschechien wahrgenommen? In Deutschland zum Beispiel wird nur sehr wenig aus dem Ukrainischen übersetzt.

„Das wird eigentlich immer besser. In Tschechien erscheinen eine Menge Bücher ukrainischer Autoren, das heißt, es gibt hier schon ein Bewusstsein über die ukrainische Literatur. In den letzten Jahren sind etwa zwei Anthologien mit ukrainischer Kurzprosa erschienen. In den letzten Monaten sind aber zum Beispiel auch die Romane ‚Jinací‘ (im Original NeprOsti, Anm. d. Red.) von Taras Prochasko oder auch ‚Moscoviada‘ vom erwähnten Jurij Andruchowytsch erschienen. Ich denke, dass das Bewusstsein über ukrainische Literatur zunimmt und festere Konturen gewinnt. Und ich denke, zur Verbesserung der Beziehungen könnte auch gerade unser Festival beitragen.“

Oleh Kocarev  (Foto: Archiv des „Monates der Autorenlesungen“)
Neben dem Gastland lesen bei ihrem Festival auch tschechische, polnische und slowakische Autoren. Aber kommt es da überhaupt noch zu Begegnungen, wenn innerhalb kurzer Zeit ganz Mitteleuropa abgefahren wird?

„Ja, denn die Autoren aus den Gastländern absolvieren ihre Tournee nicht alleine. Sie werden immer von einem polnischen, tschechischen oder slowakischen Autor begleitet. Zum Beispiel ist Jaroslav Rudiš gemeinsam mit dem Lyriker Oleh Kocarev auf Tour. Sie verbringen gemeinsam fünf Tage, im Zug oder im Auto. Im Laufe dieser Tournee können sie sich näher kennenlernen. Sehr häufig bleiben die Autoren auch danach im Kontakt. So entstehen dann zum Beispiel wieder neue Übersetzungen, oder ganz allgemein gesagt: ein kultureller Austausch.“

“Die Dinge vor seinen Augen kennt der Mensch kaum.Wir haben die Gelegenheit, mehr über die Ukraine zu erfahren.“

Das Festival hat gerade Halbzeit. Wie sind Sie bislang mit dem Verlauf zufrieden?

„Ich kann das natürlich nur ganz subjektiv beantworten. Ich muss sagen, dass mir der ukrainische Festival-Jahrgang unglaubliche Freude bereitet. Die Abende verlaufen in angenehmer Atmosphäre, die Autoren sind alle furchtbar lieb. Was sie schreiben, ist interessant, und wir können außerdem eine Menge über die Ukraine erfahren. Das ist eigentlich paradox, schließlich ist die Ukraine der Tschechischen Republik relativ nah. Aber da gilt wohl, dass der Mensch die Dinge direkt vor seinen Augen kaum kennt. Wir haben nun die Gelegenheit, das ein wenig zu durchbrechen und mehr zu erfahren. Das halte ich für sehr wertvoll.“

Hryhorij Sementschuk  (Foto: Archiv des „Monates der Autorenlesungen“)
Bis zum 5. August geht es noch weiter, und es stehen noch über 30 Lesungen bevor. Worauf freuen Sie persönlich sich noch besonders in den nächsten Wochen?

„Ich mag vor allem Poesie, darum freue ich mich jetzt schon auf den Abschlusstag in Brünn. Dort tritt am 31. Juli Hryhorij Sementschuk auf. Für uns ist er ein Wunderkind. Erst ist erst 24 Jahre alt, aber er schreibt eine sehr interessante, ausgereifte Poesie. Zugleich hilft er uns ganz außerordentlich bei der Organisation dieses Festivals in Lemberg. Das heißt, ich freue mich auf ihn als Autor genauso wie als Freund. Was die zweite Sparte des Festivals betrifft, da dürfte zum Beispiel die Lesung des slowakischen Autors Daniel Pastirčak sehr interessant werden. Er setzt sich sehr stark mit dem Christentum auseinander. Er ist selbst evangelischer Pastor, und das sieht man auch in seinem Werk. Ich denke, das ist auch interessant, weil die zeitgenössische Literatur diese konservative Sichtweise ein wenig abgeschüttelt hat.“


Der Monat der Autorenlesungen läuft in Brünn noch bis zum 31. Juli, in Breslau geht es noch bis zum 5. August. Das genaue Programm für alle fünf Städte gibt es im Internet: www.autorskecteni.cz. Einige ukrainische Autoren werden während des Festivals von Dokumentarfilmern begleitet. Die Portraits laufen später im tschechischen, polnischen und slowakischen Fernsehen.

Autor: Annette Kraus
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