Lemminge mit weißen Socken
Prag, die Goldene Stadt. Ihre tausend Türme haben viele Dichter und Künstler inspiriert. Eigentlich können die Prager stolz sein auf ihre Metropole. Doch eine schöne Stadt hat nicht nur Vorteile.
Schon zwei Monate vor meiner Ankunft in Prag hatte ich mir in meinem Stadtplan in Gedanken Kreuze an alle interessanten Orte gemacht. Doch wer sich in Prag die Sehenswürdigkeiten anschauen will, der kommt um ihn nicht herum: den Prag-Touristen.
Sein äußeres Erscheinungsbild ist alles, nur nicht geschmackvoll. Wer denkt, dass es sich bei Witzen über Männer mit weißen Socken und Sandalen um überspitzte und längst vergangene Beschreibungen handelt, kann sich hier vom Gegenteil überzeugen.
Das gesamte Verhalten des Prag-Touristen ist durch eine eigenartige Konformität geprägt. Ich habe dafür mittlerweile einen Namen: der Lemming-Effekt. Er beschreibt die absolute Ergebenheit, mit welcher die Touristenschwärme ihren Führern, gekennzeichnet durch erhobene Regenschirme, folgen. Oft habe ich den Eindruck, würde er sich von der Karlsbrücke stürzen, würden sie ihm ohne Weiteres folgen. Es scheint den Prag-Touristen nicht zu stören, dass auf den geknipsten Bildern mehr andere Touristen zu sehen sind, als historische Bauwerke. Der "Prager Lemming" beweist andererseits eine ausgeprägte Gelassenheit, wenn er vor dem Altstädter Rathaus steht und eine halbe Stunde wartet, bis er doch ein Foto schießen kann, auf dem ihm niemand vor die Linse läuft.
Abgesehen von den großen Schwärmen, gibt es die ebenso bedrohliche Kleingruppe. Bewaffnet mit ihrem Reiseführer bleibt sie in den engen Gassen der Altstadt alle zwei Meter stehen, meist ohne sich um die folgenden Passanten zu scheren. Zettelverteiler dücken ihnen auf Schritt und Tritt neue Infozettel von Museen, Restaurants und Konzerten in die Hand. Abwesend nickend steckt der ordentliche Lemming die Zettel in seine Tasche - das ist sein einziger "Kontakt" zu Einheimischen.
Am beeindruckendsten ist nämlich die Präsenz des Prag-Touristen: Wo er sich tummelt ist meist kein Tscheche weit und breit - jedenfalls nicht freiwillig.
Damit bin ich beim eigentlichen Problem. Ich bin nicht nach Prag gekommen, um mir Touristen anzusehen und mich mit deren Lemming-Tendenzen zu beschäftigen. Mich interessiert die Goldene Stadt, ihre tausend Türme und nicht zuletzt ihre Bewohner.
Viele Möglichkeiten bleiben mir nicht. Ich habe mich inzwischen an die Lemminge, als Teil der Kulisse gewöhnt und sie fast lieb gewonnen. Außerdem werde ich neue Kreuze in meinen Stadtplan machen. Vielleicht finde ich auch auf einem der unzähligen Infozettel, die ich nickend in meine Tasche gesteckt habe, einen Hinweis darauf, wo ich die echten Prager finden kann.
