Religiös oder rebellisch? Eine Osterpassion aus dem Underground
Passionsspiele gibt es seit dem Mittelalter. Vor allem in katholisch geprägten Regionen wird das Leben und Sterben von Jesus Christus zu Ostern auf die Bühne gebracht. Die Tschechoslowakei war ein atheistischer Staat - aber eben dort entstanden im Jahr 1978 Passionsspiele der etwas anderen Art. Urheber war die tschechische Undergroundband "Plastic People of the Universe", die eng mit dem Entstehen der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 verknüpft ist. Ihre ganz eigene Interpretation der Osterpassion wurde nun wohl zum letzten Mal aufgeführt.
Es klingt bedrohlich - und damit entspricht es dem Anlass. Wenn eine Rockgruppe, deren Musikrichtung meist mit dem wenig fassbaren Begriff "psychedelisch" charakterisiert wird, das Leben und Sterben von Jesus Christus vertont, ist von vornherein klar, dass das Ergebnis wohl kaum noch nach Bachs Matthäus-Passion klingt. Zum Osterfest vor 29 Jahren wurde das monumentale Werk der tschechischen Underground-Rocker uraufgeführt - an einem ganz besonderen Ort. Vratislav Brabenec, der das Libretto der "pasijove hry velikonocni" - der Osterpassionsspiele - geschrieben hat, erinnert sich an die Premiere:
"Das erste Mal haben wird die Passionspiele mit den Plastics gespielt, aber tatsächlich nur ein einziges Mal. Das war auf dem Anwesen von Vaclav Havel, in Hradecek. Wir hatten zuvor schon geplant, es an verschiedenen Orten aufzuführen, aber schließlich haben wir es doch in Hradecek gespielt. Und danach haben wir es überhaupt nicht mehr gespielt, weil es nicht möglich war."
Bei Vaclav Havel treffen sich im Jahr 1978 also die Musiker, die zwei Jahre zuvor wesentlich an der Entstehung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 beteiligt waren. 1976 wurden die Plastic People verboten und einige Mitglieder, darunter auch Brabenec, zu Gefängnisstrafen verurteilt. Und nur wenig später bringt die Rockgruppe den Leidensweg von Jesus Christus auf die Bühne. Da liegt der Gedanke nah, dass die Beweggründe für ein solches Projekt keineswegs nur musikalischer oder religiöser Art sind. Jesus am Kreuz; und die aufkeimende tschechoslowakische Widerstandsbewegung sieht sich härtesten Repressionen ausgesetzt - da muss es doch einen Zusammenhang geben? Dazu der amerikanische Soziologe und Musikwissenschaftler Trever Hagen, der derzeit als Fulbright-Stipendiat in Prag lebt:
"Ich denke, dass alle Bandmitglieder sehr unpolitisch waren. Ihre Musik sollte nie politisch sein. Vaclav Havel allerdings und der damalige künstlerische Leiter der Band, Ivan Jirous, sagten: Eure Musik ist ganz zwangsläufig politisch, denn ihr seid gegen das Regime. Aber den Text für die Passionsspiele hatte Brabenec ja schon zehn Jahre vor der Charta 77 geschrieben, also war es wohl wirklich nur der Ausdruck für eine neue musikalische Richtung. Und die Tatsache, dass Brabenec gerade erst aus dem Gefängnis gekommen war, war vielleicht einfach nur ein Anstoß, diesen Umschwung nun zu wagen."
Brabenec selbst sieht das genauso. Er habe eben intensives Bibelstudium betrieben, und Musiker müssten sich nun einmal weiter entwickeln - so begründet es Brabenec heute. Für einige Jahre studierte der Saxofonist sogar evangelische Theologie. Also ein Werk aus religiöser Überzeugung? Dazu Trever Hagen, der derzeit seinen Master über die tschechoslowakische Undergroundmusik der 1970er und 1980 schreibt:
"Der religiöse Aspekt ist auf eine gewisse Weise interessant, weil er uns wieder zum gleichen Punkt führt: Das Persönliche wird zum Politischen. Diese Auffassung hat auch Vaclav Havel immer vertreten. Die Religion war während des Kommunismus eine unerwünschte Sache, daher ist das Ganze fast zwangsläufig gegen den Staat gerichtet. Insofern gibt es natürlich schon eine religiöse Komponente."
Politik, Religion und Musik in einer ungewöhnlichen Symbiose. Gesprochene Passagen treffen auf Gesang, Streicher auf Schlagzeug und E-Gitarre. Kurz nach der Uraufführung trafen sich die Plastic People ein weiteres Mal auf Havels Landsitz, um das Album einzuspielen, das erst 1980 beim kanadischen Exillabel Bozi Mlyn erscheinen konnte. Komponist der Passionsspiele war der Bassgitarrist und Sänger der Plastic People, Milan Hlavsa, der inzwischen verstorben ist. Die Band, die normalerweise in einer Fünferbesetzung spielte, engagierte fünf weitere Musiker. Die ungewohnte Situation brachte Schwierigkeiten mit sich, wie Trever Hagen zu berichten weiß:
"Während des Konzerts waren sie ziemlich nervös. Es gibt eine amüsante Geschichte von einem Kunsthistoriker, der zu dem Kreis um Havel gehörte. Er sprach nach dem Konzert mit Milan Hlavsa und sagte zu ihm: 'Das Konzert war ja so gut! Die Harmonien waren wahnsinnig interessant', worauf Hlavsa erwiderte: 'Oh ja, genau das war unsere Absicht.' Aber tatsächlich waren sie total nervös und hatten einfach die Töne nicht richtig getroffen. Etwas ähnliches hatten sie noch nie live gespielt."
Trever Hagen hat während seines Forschungsaufenhaltes in Prag festgestellt, dass es sehr schwer ist, die Undergroundbands einer musikalischen Einordnung oder gar Bewertung zu unterziehen. Oft fällt das vielsagende Adjektiv "interessant" - allerdings ist das Interesse für die bewegte Geschichte im Untergrund weitaus größer aus für die Musik. Die Rock- und Popgeschichte haben sie sicherlich nicht revolutioniert, dafür aber mit ihrer Haltung der politischen Revolution im Jahr 1989 den Weg bereitet. Und da ist noch etwas anderes, das die Plastic People und ihre Osterpassion auszeichnet, meint Trever Hagen:
"Es versuchte niemand, so etwas wie einen Superhit zu landen. Der kommerzielle Aspekt des Musikmaches wurde völlig eliminiert. Es war einfach eine sehr freie Form des Ausdrucks, was sich vor allem im Gesang und den Sprechsequenzen zeigt. Am deutlichsten wird es bei Pavel Zajicek, der einige "Sprechsequenzen" hat - tatsächlich schreit er. Man muss sich diese Szene vorstellen: Da ist diese Scheune und Havels Chartisten, ich vermute, etwa 100 Leute, und Zajicek steht da und schreit - das ist einfach eine sehr intensive Atmosphäre für ein Konzert. Ich denke, man spürt das auch noch bei der Aufnahme. Es war finstere Nacht, Polizisten umstellten die Scheune und das ganze Konzert. Es ist interessant, sich mit der Musik dieses Gefühl zurückzuholen."
Nach den letzten Auftritten auf Havels Landsitz brachen für die Plastic People of the Universe harte Zeiten an. Die Besetzung wechselte immer schneller. 1987 zerfiel die Gruppe ganz. Erst 1997 gab es auf Anregung von Vaclav Havel, inzwischen im Amt des tschechischen Staatspräsidenten angelangt, eine Wiedervereinigung. Der Anlass war der 20. Jahrestag der Charta 77. Und auch die Passionspiele wurden reaktiviert. Zusammen mit dem Kammerorchester Agon Orchestra gingen die Plastic People auf Tournee durch Tschechien und Europa. Laut Vratislav Brabenec war die Aufführung am Ostersonntag in Sonov im Kreis Broumov nahe der polnischen Grenze nun die Letzte. Es sei Zeit für etwas Neues. Und noch ein anderer Grund spielt eine Rolle. So eine Osterpassion ist eine aufwendige Angelegenheit. Brabenec rechnet vor:
"Wir brauchen für die Aufführung 30 Leute. Man muss also 30 Leute einladen, und jedem Musiker 1000 Kronen zahlen, was schon unglaublich wenig ist. Also, 30.000 für die Musiker, und dann kostet der Saal, in dem wir spielen weitere 50.000 Kronen. Wenn also jemand fragt, ob wir die Passionsspiele aufführen, bleibt uns nur zu sagen: Rechne damit, dass dies ein Projekt von mindestens siebzig-, achzigtausend Kronen wird. Und da sind wir als Musiker finanziell noch sehr schlecht dran."
Für die letzte Aufführung haben sich die Plastic People of the Universe noch einmal einen besonderen Ort ausgesucht. Es ist die kleine Kirche St. Margaretha vom Barockbaumeister Kilian Ignaz Dientzenhofer, die zu verfallen droht. Teile der Einnahmen sollen für die Restaurierung verwendet werden. Ob die Aufführung der Osterpassion aber wirklich die endgültig Letzte war, bleibt abzuwarten. Schließlich steht nächstes Jahr wieder ein Jubliäum an - das dreißigjährige der Osterpassionsspiele.