Nach-Wahlstimmung in der tschechischen Gesellschaft

Foto: CTK

Tschechien befindet sich nach den Wahlen vom vergangenen Wochenende in einer paradoxen Situation: Auf der einen Seite herrscht Zufriedenheit und Erleichterung darüber, dass wesentlich mehr Menschen wählen gegangen sind als vor vier Jahren und dass die Kommunisten bei den Wahlen als klarer Verlierer abgeschnitten haben. Auf der anderen Seite sind die Menschen zunehmend frustriert darüber, dass sie mit ihrer Stimme keine klaren Machtverhältnisse im Parlament hergestellt haben. Knapp eine Woche nach den Wahlen sind die Aussichten auf die Bildung einer beschlussfähigen Regierung mehr als ungewiss. Silja Schultheis ist in einer neuen Ausgabe der Sendereihe "Forum Gesellschaft" den enttäuschten Erwartungen der Wähler und der Nach-Wahl-Stimmung in der tschechischen Gesellschaft nachgegangen.

Foto: CTK
Tschechien hat gewählt - und zugleich nicht gewählt. Zwar hat die Mehrheit der Wähler für einen politischen Kurswechsel, für Reformen und neue Gesichter im Abgeordnetenhaus gestimmt. Aber trotzdem verfügen die Parteien, die dafür stehen, nicht über eine Sitzmehrheit in der unteren Parlamentskammer. Geschuldet ist das im Wesentlichen dem tschechischen Wahlrecht, das kleine Parteien bei der Mandatsberechnung klar benachteiligt. Besonders Jungwähler sind daher frustriert darüber, dass sie mit ihrer Stimme letztlich nicht den ersehnten Richtungswechsel herbeigeführt haben. Denn das war die Hauptmotivation für viele junge Leute, zu den Urnen zu gehen, sagt David Cermak, Sprecher einer der zahlreichen Initiativen, die junge Tschechen zum Wählengehen motivieren wollten. Dass die Wahlbeteiligung mit 65 Prozent diesmal wesentlich höher war als 2002 (58 Prozent), führt Cermak auf einen Trend zurück, den er seit etwa einem Jahr in Tschechien beobachtet:

"Ich meine, dass einen großen Einfluss auf die Entscheidung vieler junger Leute der politische Stil hatte, den Premierminister Jiri Paroubek einführt hat. Dieser Stil gefällt ihnen nicht und dazu kamen Ereignisse wie etwa der Polizeieinsatz bei der Technoparty CzechTek im letzten Jahr, der sich im Wesentlichen gegen junge Leute richtete. Seitdem begannen auch einige derjenigen, die sich vorher überhaupt nicht für Politik interessiert hatten, das Verhalten der Politiker genauer zu verfolgen und gingen deshalb auch zu den Wahlen, um Einfluss darauf zu nehmen."

Einfluss zu nehmen auf eine Abstimmung, die diesmal grundsätzlicheren Charakter hatte, als jemals zuvor, meint der Soziologe Petr Mateju vom Prager Institut für soziale und ökonomische Analysen:

"Ich meine, dass es in diesem Land bei Wahlen noch nie so sehr um eine Entscheidung zwischen rechts und links ging wie diesmal. Und dieser Streit zwischen dem rechten und linken Lager ist bei uns gegenwärtig in erster Linie ein Streit um das Wesen der Demokratie. Denn die Wähler waren sehr alarmiert darüber, wie die Sozialdemokraten gemeinsam mit den Kommunisten begonnen haben, die Pressefreiheit einzuschränken und Einfluss auf Bereiche zu nehmen, die sie eigentlich nicht berühren dürften wie Polizei und Gerichte. Hier ging es um Grundpfeiler der Demokratie und hier hat sich das rechts-links-Denken sehr verstärkt."

Verstärkt wurde dieser Trend erheblich durch eine Ansprache von Premierminister Jiri Paroubek am Wahlabend, in der er der Opposition und den Medien eine verleumderische Kampagne gegen ihn vorwarf und ihre Methoden mit denen der Kommunisten im Jahr 1948 verglich. Damit brachte er weite Teile der Gesellschaft gegen sich auf und die Empörung über diesen Vergleich hallt immer noch nach:

Demonstration gegen Premier Jiri Paroubek  (Foto: Autorin)
Odstoupit - zurücktreten! Das forderten am Dienstag und Mittwoch mehrere Tausend Menschen auf dem zentralen Prager Wenzelsplatz und brachten damit ihren Ärger über die von Paroubek seit Monaten offen betriebene Annäherung der Sozialdemokraten an die nicht reformierte kommunistische Partei zum Ausdruck. Nach Meinung des Soziologen Petr Mateju hat diese viele Wähler zur Reflexion über den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit ihres Landes veranlasst:

"Ich denke, die Verbindung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten hat viele Menschen endlich auf den Gedanken gebracht: warum haben wir uns noch nicht von den kommunistischen Relikten aus der Vergangenheit verabschiedet? Deshalb haben die Kommunisten diesmal auch die geringste Stimmenzahl in ihrer Geschichte erhalten."

Wie soll es nach der entstandenen Patt-Situation zwischen zwei verfeindeten Lagern - den Sozialdemokraten und der Demokratischen Bürgerpartei -weitergehen in Tschechien? Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts STEM ist die Mehrheit der Tschechen gegen eine große Koalition der beiden großen Parteien und etwa die Hälfte zusätzlich gegen Neuwahlen. Besonders bei jungen Leuten könnte die Ausschreibung von Neuwahlen einen negativen Effekt haben, befürchtet David Cermak von der Inititative "Pujdu volit" - deutsch: "Ich gehe wählen". Möglicherweise würden viele dann nicht mehr zu den Urnen gehen - aus Furcht davor, dass es wieder zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, meint er. Um eine ähnliche Situation in Zukunft zu verhindern, sei es jetzt an der Zeit, über grundlegende Änderungen im Wahlsystem nachzudenken:

"Unter jungen Leuten wird im Moment sehr viel über eine Änderung des Wahlrechts diskutiert. Denn die kleinen Parteien, die häufig die jungen Menschen mehr ansprechen als die großen, haben bei uns nach dem jetzigen Wahlrecht kaum Chancen, ins Parlament zu kommen. Das sehen die jungen Menschen als großes Problem."

Jiri Paroubek  (Foto: CTK)
Viele junge Menschen haben deshalb für eine der größeren Parteien gestimmt - allein schon deshalb, damit ihre Stimme nicht verloren geht.

Er habe Balbins poetische Partei gewählt, sagte mir ein junger Mann auf der erwähnten Großdemonstration gegen Premierminister Jiri Paroubek:

"Das ist eine kleine Partei, die ein anderes Programm bietet als das, was man hier seit Jahren kennt. Einfach etwas anderes."

Seine Freundin hat Grün gewählt und erklärt, warum:

"Eigentlich wollte ich die Monarchisten wählen, aber da hätte ich meine Stimme verschenkt, denn die hatten überhaupt keine Chance, ins Parlament zu kommen. Wenn sie Chancen gehabt hätten, hätte ich sie wohl gewählt."

Zu welchem Ergebnis die politischen Verhandlungen über die Regierungsbildung letztlich führen werden, scheint bislang noch völlig ungewiss. Einen positiven gesellschaftlichen Effekt der Wahlen kann man bereits jetzt erkennen: Zumindest ein Teil der jungen Menschen hat die polarisierte Stimmung des Wahlkampfs aus ihrer Apathie gegenüber dem politischen Geschehen im eigenen Land herausgerissen. David Cermak:

"Ganz sicher gibt es hier jetzt eine Menge junger Leute, die sich politisch engagieren wollen, oder besser: die Politiker kontrollieren. Und das werden ganz sicher nicht weniger werden, denn diese Menschen sind da und wollen etwas tun."