Hexensabbat und Frühlingserwachen - der erste Mai

In jedem Jahr wieder ist es eine ganz besondere Zeit, die Stunden zwischen Mai und April: Die magische Finsternis der Walpurgisnacht geht mit dem ersten Hahnenschrei über in das Frühlingserwachen des ersten Maimorgens, in den Tag der Liebe und der Verliebten. Thomas Kirschner war für die folgende Ausgabe von Forum Gesellschaft in den Straßen und Gärten Prags unterwegs und hat nachgeschaut, wie Hexensabbat und Frühlingserwachen in der tschechischen Hauptstadt gefeiert werden.

Kleine Häuser drücken sich geduckt und winkelig aneinander, über die schiefen Mauern der winzigen Vorgärtchen strecken dürre Bäume ihre Äste bizarr in den Nachthimmel. In diesen Gassen des Prager Vororts Stresovice ist es, als wäre man aus seinem Jahrhundert herausgetreten. Die Straße ist hier kaum zwei Meter breit und mit groben Buckelsteinen gepflastert. Im Mondschein tanzen Kinder einen Ringelreihen. Wo sich die Gasse zu einem kleinen Platz erweitert, brennt ein großes Feuer, um das sich alle Nachbarn versammelt haben: Walpurgisnacht in Prag. Nach den beiden Aposteln, die noch bis in die 50er Jahre hier ihren Feiertag hatten, heißt sie in Tschechien allerdings meist "filipojakubska noc", Philipp-Jakobs-Nacht. Feuer gibt es in dieser Nacht aller Orten. Was es damit auf sich hat, erklärt einer der Nachbarn:

"Ich habe einmal gelesen, dass nach der Überlieferung in der Philipp-Jakobs-Nacht die bösen Geister am stärksten sind. Und deshalb haben die Menschen früher versucht, sie mit dem Feuer zu vertreiben."

Seit keltischen Zeiten glauben die Menschen, dass Hexen und Dämonen in der letzten Nacht des April ihre größte Macht besitzen, dass sie durch die Lüfte fliegen und den Menschen, dem Vieh und der Ernte Schaden zufügen. Umso wichtiger war es, sich gerade in dieser finstersten aller Nächte gut gegen die Mächte des Bösen zu schützen: durch magische Zeichen an den Türen und Fenstern des Hauses, durch eine umgeworfene Schale Mohnkörner, die die Hexen mühsam einzeln auflesen müssen, oder eben durch ein hell loderndes Feuer. Als Zeichen des Sieges über die Kräfte der Dämonen wurden dabei traditionell auch Hexenpuppen in die Flammen geworfen - eine Tradition, die sich bis heute erhalten hat. In Stresovice allerdings, so scheint es, haben die Hexen die Seiten gewechselt:

"Wir verbrennen hier nur Holz, weil uns unsere Männer noch brauchen: zum Kochen, zum Waschen und für andere Arbeiten..."

Dass man es nicht mehr ganz so genau nimmt mit den Traditionen, zeigt auch Jarda, der bereits zuvor zu Hause eine Hexenpuppe verbrannt hat. Und dabei gleich einen seiner persönlichen Dämonen entsorgt hat - das alte zerschlissene Lieblings-Küchen-T-Shirt seiner Frau, was diese noch nicht weiß. Auch sonst ist die Hexe diesmal eher unorthodox ausgefallen:

"Naja, man macht die Hexen-Puppen eben aus dem, was gerade zur Hand ist. Und weil unser Mieter gerade einen Lampion kaputt gemacht hat, haben wir eben den genommen, ihn mit Papier ausgestopft und ihn schön angezogen. Eigentlich sollte die Hexe natürlich eine Frau sein, nur unsere Lampion-Hexe hatte keinen richtigen Busen, eher so einen Mono-Busen. Aber gebrannt hat sie gut!"

Und wie es scheint, hat die Hexenverbrennung geholfen: Von bösen Mächten ist an diesem Abend keine Spur: Jarda streicht den Kontrabass, eine Geige ist bei der Hand, und so geht die Philipp-Jakobs-Nacht in Stresovice bis zum ersten Hahnenschrei...

Am nächsten Morgen ist bei schönstem Frühlingssonnenschein ganz Prag auf den Beinen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind allerdings nicht mehr so klar gezogen, wie in der vergangenen Nacht: Der erste Mai, das ist nämlich auch der Tag der Arbeit, ein Tag voller politischer Kundgebungen. Die Kommunisten versammeln sich auf dem Ausstellungsgelände, die Antikommunisten auf dem Letna, eine Neonazi-Kundgebung gibt es und die Bürgerdemokraten laden in der Vorwahlzeit zu Vergnügungen auf den Petrin, den Laurenziberg. Hier steht auch das Denkmal von Karel Hynek Macha, dem tschechischen Dichter der Romantik, der in seinen berühmtesten Versen gerade den ersten Mai besingt:

Statue des Dichters Karel Hynek Mácha in Prag | Foto: Kristýna Maková,  Radio Prague International
"Byl pozdni vecer - první maj - vecerni maj - byl lasky cas. Hrdliccin zval ku lasce hlas, kde borovy zavanel haj."

"Spätabend war´ s - der erste Mai - Ein Abendmai - der Liebe Zeit. Zur Liebe lud des Täubchens Schrei, wo Kiefernhain die Düfte streut."

Nicht im Kiefernhain, aber in den blühenden Obstgärten des Laurenziberges flanieren die Liebespaare in unübersehbarer Zahl. Ein Kuss unter Blüten, das gehört ganz unbedingt zu einem ersten Mai auf den Spuren von Karel Hynek Macha, meint nicht nur dieser junge Mann:

"Der erste Mai ist der Tag der Liebe, eben Machas Tag, und an dem soll man seine Freundin unter einem blühenden Baum küssen, damit die Liebe im nächsten Jahr nicht verdorrt!"

Und seine Freundin bestätigt, was ohnehin offensichtlich ist: Ihr gefalle dieser Brauch, weil er so schön ist - und so romantisch!

Für einen ersten Mai jenseits der Politik ist auch Ondrej Linhart. Mit Freunden trifft er sich regelmäßig an diesem Tag in den Petrin-Gärten zu einem poetischen Maibeginn:

"Wir feiern hier den ersten Mai als Tag der Liebe. Wir meinen, dass das nicht der Tag der Arbeit sein sollte - deshalb lassen wir die Arbeit hier auch Arbeit sein und lesen uns lieber Liebesgedichte vor. Das hat so angefangen, dass eine Freundin einmal beschlossen hat, einen Gedichte-Zoo auf die Beine zu stellen. Auf dem ganzen Petrin-Berg hat sie dann unter den blühenden Bäumen Gedichte verteilt, in kleinen Käfigen. Zuerst kam mir die Idee ziemlich seltsam vor, aber dann hat mir die Aktion so gefallen, dass ich im nächsten Jahr wiedergekommen bin, und einige Leute haben mitgemacht und so hat das angefangen."

Schon seit acht Jahren kommt die lose Gruppe zu ihrer lyrischen Maifeier zusammen - ein Gegenprogramm zu den politischen Maikundgebungen.

"Die wichtigste Politik liegt in jedem Menschen selbst - nach der sollte man sich richten, und nicht nach irgendwelchen Parteien. Und schon gar nicht sollte man für so etwas den ersten Mai missbrauchen, wie das von den Kommunisten immer mit den Paraden auf dem Letna-Plateau gemacht wurde. Das ist Gott sei dank vorbei. Jedenfalls sollten sich die Leute einfach die eigenen Dinge bewusst machen und sich nicht mit irgendwelchen politischen Aktivitäten stressen."

Sondern sich stattdessen zum Beispiel bei Liebes- und anderen Gedichten in den Mai träumen. Wie in einem natürlichen Amphitheater sitzt und liegt eine bunte Schar von Zuhörern auf den sanft ansteigenden Wiesen des Petrin. Kinder turnen herum, Gedichtzettel flattern an Wäscheleinen im Frühlingswind, und Oldrich und seine Freunde zeigen, dass nicht nur die Verse von Karel Hynek Macha zu diesem Tag passen:

"Sestrelen ve vane zubnim kartackem, vzpominam na tvoje doteky. Jako bych nebyl ve vane, jako bych uprostred reky skladal verse k Tvym noham."

"Abgeschossen von einer Zahnbürste, in der Badewanne erinnere ich mich an deine Berührungen. So, als wäre ich nicht in der Wanne, als wäre ich in der Mitte des Flusses und legte dir Verse zu Füßen."