"Ein Abend spät - der erste Mai " - Mai auf tschechische Art

Statue of Macha on Petrin Hill

Für den 1. Mai haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht. Die Sendung steht ganz im Zeichen des tschechischen Dichters Karel Hynek Macha. Er hat das Kultgedicht Maj verfasst. Aber nicht nur das Thema, sondern auch das Format der Sendung ist diesmal anders. Ein Potpourri aus Moderationen, Interviews mit den Gesprächspartnern, Auschnitten aus dem Gedicht und Musik. Lassen sie sich von uns mitnehmen in den sagenumwobenen Mai.

Mácha-Statue auf dem Prager Petřín | Foto: Kristýna Maková,  Radio Prague International
"Ich erinnere mich aus der Schule noch an eine Strophe der Verse. Ein Klassiker. Das meiste habe ich vergessen, nur einen Vers weiß ich noch: Hynek, Wilhelm, Jarmila!"

Kommt ihnen bekannt vor? In der Schule sitzen und Gedichte auswendig lernen müssen, wo man zu dem Zeitpunkt zumindest gar nicht genau weiß, warum eigentlich? Und den Sinn verstehen, das steht schon wieder auf einem anderen Blatt.

Maj ist das Kultgedicht der Tschechen und hat seinen Schöpfer Macha auch gleich zur Kultfigur gemacht. Sie mögen schon zur Genüge über Macha und den Maj gehört haben, aber bei uns erfahren sie heute Einzelheiten, die ihnen so bestimmt noch nicht untergekommen sind.

Zum Beispiel warum das Gedicht eigentlich Maj heißt und nicht Kveten, was die heutige gebräuchliche Bezeichnung für den Monat Mai ist. Unsere Gesprächspartner, eine Literaturwissenschaftlerin und ein Kuturwissenschaftler werden uns erzählen, was das Besondere an Macha und seinem Máj ist.

Aber wir möchten sie nicht nur mit dem Kult um die Person Macha und sein Gedicht vertraut machen, sondern auch mit dem Gedicht selbst. Daher werden Sie während den nächsten 20 Minuten immer wieder Auschnitte aus Mai zu hören bekommen. Viel Vergnügen!


"Ein Abend spät - der erste Mai -

ein Abendmai - der Liebe Zeit.

Wo Föhren Düfte streuen weit,

das Täubchen ruft zur Lieb herbei.

Von Liebe lispelt leis das Moos,

Leid log der Baum im Blütenschwall,

der Rose sang die Nachtigall,

ihr, deren Duft war Liebe bloß.

Der See, den Schatten kühl umstellten,

ließ rauschen sein geheimes Weh,

der Strand umschloss ihn wie seit je,

und helle Sonnen andrer Welten,

sie kreisten in azurnen Strähnen

und leuchteten wie Liebestränen.

Auch ihre Welten, licht im Prunken,

im Liebesdome Zuflucht nahmen,

bis sie - von ihrer Liebe trunken,

verwandelt zu erloschnen Funken -

als Liebende zusammenkamen."

Zwei Liebende, Jarmila und der Räuberhauptmann Vilem, oder Deutsch Wilhelm. Jarmila wartet auf Ihn. Doch er kommt nicht, stattdessen erhält sie die Nachricht, was geschehen ist. Es ist das Drama von Vilem. Er ist tot, hingerichtet worden. Denn in Eifersucht hat er seinen Nebenbuhler erschlagen. Erst zu spät hat er erkannt, dass sein Vater der Nebenbuhler war. Jarmila will auch nicht mehr leben und stürzt sich vom Felsen in die Fluten des Sees.

Das ist die traurige Geschichte, die Macha in seinem Gedicht erzählt. Klingt auch nicht ungewöhnlich. Typisch romantisch eben. Und doch waren Machas Zeitgenossen ziemlich aufgebracht, wie die Brünner Literaturwissenschaftlerin Zuzana Urvalkova weiß:

"Provozierend war nämlich das Thema. Im Mai stehen zueinander das Aufblühen der Natur mit dem Tod des Helden Willi. Für die damalige patriotische Gesellschaft war nur die Naturlyrik akzeptabel, jedoch nicht der Parallelismus mit der aufblühenden Natur mit dem peinlichen, erniedrigenden Tod des Helden am Galgen. Der Kontrast gefiel nicht, weil er nicht genug nationalfröhlich und gesellig war und dies war das populäre in der damaligen Literatur."


"Entblößt den Hals, die Schulter weiß und jung -

jetzt kniet er hin - furchtbare Augenblicke -

die Waffe blitzt - der Henker schlägt - im Schwung

das Schwert den Schuldigen trifft im Genicke -

das Haupt fällt hin - ein Sprung - und noch ein Sprung,

zur Erde auch der Rumpf zu sinken dann beginnt,

zur schönen Erde, zur geliebten Erde,

zur Wiege und zum Grab, zur Mutter sein,

zum Land, verliehn, daß es sein Erbe werde,

zum weiten Land, alleinig und allein,

zur Mutter sein, Mutter des Sohnes Blut jetzt rinnt."

Die Literaturwissenschaftlerin Zuzana Urvalkova: "Es klingt vielleicht ein bisschen banal, aber das Gedicht ist einfach schön zu sehen, schön zu hören und schön zu lesen. Und dabei ist es kein triviales Gedicht. Der Liebesrahmen, der in diesem Gedicht beinhaltet ist, spricht den einfachen Leser an. Aber auch der einfache Leser spürt, dass die Liebesgeschichte nicht das Einzige ist, sondern nur Teil einer gut durchdachten Struktur. Literaturhistorisch gesehen wurde die tschechische Literatur mit diesem Gedicht zum Bestandteil der europäischen Literatur, vielleicht sogar der Weltliteratur. Denn es übergreift den Rahmen der damals populären Themen, auf das Europäische hin. Deshalb ist es auch mit anderen bedeutenden Romantikern zu vergleichen wie Novalis aus der deutschsprachigen Literatur."

Macha hat sich also weniger an seinen Landsleuten, als an Dichtern aus anderen Ländern orientiert. Damit hat er zwar zunächst nicht in die zeitgenössische tschechische Literatur gepasst. Trotzdem gab es auch in Machas Werk typisch tschechische Elemente.

"Typisch tschechisch ist insbesondere der Prolog, der mit der damaligen Poetik konveniert. In nicht kritischen Publikationen wird er allerdings häufig nicht publiziert, und ist deshalb nicht allgemein bekannt. Gerade das biedermeierlich aufgefasste nationale Thema, dass in der tschechischen Literatur der 30er Jahre Pflichtthema war, wird angesprochen. Im Gedicht liegt der Schwerpunkt aber auf einem anderen Thema. Das Nationale weicht der ästhetischen Qualität des Ausdrucks und andere Werte rücken in den Vordergrund, die von damaligen Literaturkritikern als sehr provokant empfunden wurden. Obwohl auf Tschechisch geschrieben, fällt es aus dem damaligen Kanon tschechischer Literatur, weil es metaphysischer ist, problematischer und so provozierender."

Karel Hynek Macha  (Foto: Kristýna Maková)
Und heute gehört Maj zum Kanon der tschechischen Literatur. Seit Jahrzehnten kommen die Schüler im Land an dem Gedicht nicht vorbei. Was für die Deutschen Schillers "Glocke" ist Für die Tschechen Machas "Maj":

"In der Schule haben wir natürlich Macha durchgenommen. In der Grundschule und im Gymnasium. Ich glaube, wir mussten den Máj auch auswendig lernen. Das ist das Gedicht, das jeder Tscheche kennt oder von dem zumindest jeder weiß, dass es existiert. Vor kurzem ist mir eingefallen, dass es ein Gedicht ist, das ich gerne zu Hause im Bücherregal haben möchte. Dass ich das Buch kaufen möchte. Es einfach zu Hause haben. Es ab und zu lesen."

"Ich weiß über Macha und seinen Maj noch, dass er der erste Vertreter der Romantik in der tschechischen Literatur war. An das Geschehen in dem Gedicht erinnere ich mich nicht mehr. Was etwas schade ist, weil wir sicher drei oder vier Lektionen im Tschechischunterricht damit verbracht haben. Unsere Lehrerin war ziemlich begeistert von Macha und seinem Maj. Deswegen haben wir das in Einzelteilen behandelt. Wir haben uns zum Beispiel mit dem Stil und dem Ausdruck beschäftigt."

Auch diese beiden Prager Studenten mussten sich also mit Macha und seinem Werk auseinandersetzen.

"Macha ist schon sehr früh Objekt eines Kults geworden. Aber nicht als Person oder Dichter, sondern vor allem für den Maj, sein Werk. Der Kult äußerste sich sofort nach seinem Tod im November 1836 in der Zusammenkunft seiner Freunde, Kommilitonen und Mitschüler. Sie schworen zum einen, sich für die Herausgabe von Machas Werk einzusetzen. Zum zweiten, das Gedenken an den Dichter gegen die damalige Gehässigkeit zu schützen. Und der dritte Punkt war, dass sie sich um die Witwe und das Kind kümmern wollten."

sagt der Prager Kulturwissenschaftler Dusan Prokop. Richtige Kultfigur wurde Karel Hynek Macha allerdings erst, als sein Werk auch größeren Kreisen bekannt war, also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die drei Jubiläen des Dichters, 100. Geburtstag - 100. Jahrestag des Gedichtes Maj und der 100. Todestag wurden schon ausgiebig gefeiert.

"Und als Höhepunkt des Kultes kann man die Exhumierung der Gebeine von Macha im Oktober 1938 betrachten und ihre feierliche Beisetzung auf den Friedhof von Vysehrad Anfang Mai 1939. Da lässt sich wirklich von einem Kult reden. Denn an dem Begräbnis nahmen mehrere zehntausend Menschen teil, also auch viele einfache Prager Bürger. Offensichtlich verstanden sie die Versammlung als eine Art Widerstand gegen die deutsche Okkupation und als Ehrung von Macha als tschechischen Dichter. So entstand der Kult Machas als Nationaldichter."

Der Macha-Kult hängt vor allem mit einer Statue auf dem Prager Petrin-Hügel zusammen. Der Bildhauer Josef Vaclav Myslbeck hat sie 1912 geschaffen und verstärkte damit noch die unreflektierte Bewunderung des Dichters. Als er seinen Macha in Stein gehauen hat, schuf er einen jungen Galan mit Blumenstrauß.

"Daraus entstand ein wichtiges Attribut des Kults: Macha wurde zugeschrieben, ein Liebesdichter zu sein. Dem Inhalt seines Werks steht das allerdings entgegen. Wenn in Machas Werk die Liebe auftaucht, dann ist sie eine widersprüchliche Sache. Und das ganz besonders im Gedicht Maj."


"Am Ufer weiße Höfe, Kähne,

Turm, Städtchen, weißer Vögel Flug,

Hügel und dunkle Bergeslehne -

alle in Wasserschoßes Trug

sich wie im Spiegel schauen.

Im fernen Blau ein Felsensaum

am Blütenufer, jäh erglommen,

am Grat ein alter Eichenbaum -

das, und die Zeit jetzt, da im Mai

das Täubchen ruft zur Lieb herbei,

wird nie mehr wiederkommen. -

Ein Berg, nicht ferne vom Gestade,

mit einem Pfahl und einem Rade;

am Berge nebenbei wächst frei

ein Hain und rauscht vor Leid und Weh,

die Sonne über Tal und See,

und früher Tau - ein Morgenmai."

Petrin-Hügel
Dass Macha eigentlich kein Minnesänger war, interessierte wohl nur die wenigsten Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vielmehr entstand eine neue Tradition. Am 1. Mai pilgern auch heute noch junge Liebespärchen auf den Prager Petrin-Hügel und küssen sich dort unter der Statue. Zudem versammelten sich Studenten unter den steinernen Augen des Dichters und rezitierten Verse aus dem Maj.

Dem Liebreim der Verse konnten auch die Kommunisten nicht widerstehen. Sie eigneten sich Macha an, obwohl sein Werk unpolitisch war. Es reichte, dass er aus ärmlichen Verhältnissen stammte, Atheist war und etwas Revolutionäres hatte. Doch damit begann der Kult auch an Zauber zu verlieren, wie Kulturwissenschaftler Prokop sagt:

"Vielen Leuten wurde Macha gerade dadurch verleidet, weil sein Proletariertum betont wurde, sein Atheismus und Ähnliches."

Heute ist die Sicht auf Macha deutlich nüchterner geworden. Dazu hat auch die umfassende Arbeit der Literaturwissenschaftler beigetragen. Etwas hat sich vom Kult um den Dichter dennoch erhalten: So wird jeder Anlass genutzt, um den Maj erneut zu drucken. Rund 200 Mal wurde das Gedicht bereits herausgegeben, schätzt Dusan Prokop. Eine ungewöhnlich hohe Zahl. Er wirkt eben auch heute noch, der Maj.

Im Übrigen sind wir Ihnen noch eine Antwort schuldig. Zu Beginn der Sendung hatten wir gesagt, dass im Tschechischen eigentlich kveten das gebräuchlichere Wort für den Monat Mai ist. Hat Karel Hynek Macha etwa auf die deutsche Sprache zurückgegriffen, als er sein Werk Maj nannte? Schließlich sprach Macha ja Deutsch und seine ersten Werke schrieb er auch in dieser Sprache.

Kulturwissenschaftler Dusan Prokop weiß es besser. Die Begriffe Maj und kveten wurden zur Zeit Machas synonym für den Monat Mai genutzt. Maj war die umgangssprachlichere Form und ist aus dem Lateinischen und nicht aus dem Deutschen. Macha hat sich aber etwas dabei gedacht, als er das Wort Maj gewählt hat, meint auch der Kulturwissenschaftler:

"Er wählte Maj, weil es ihm vom Rhythmus her passte und auch wegen des Schönklangs. Es ist lautmalerisch. Und es ist weniger prosaisch, auch wenn es umgangssprachlicher ist als kveten."

Wir hoffen, es hat ihnen Spaß gemacht zuzuhören. Vielleicht haben sie ja sogar Lust bekommen, mal bei Macha nachzulesen oder bei uns nachzuhören, auf der Internetseite www.radio.cz.

Als Abschiedschmankerl gibt es noch den Schluss des Gedichts Maj von Karel Hynek Macha. Auf Wiederhören.


"Siehst du den Wandersmann, der durch die Wiesen spät

zum Ziele eilt, bevor das Abendrot vergeht?

Nein, diesen Wandersmann erblickst du nie mehr, nein,

bis er verschwindet dort in Felsgebirgen weit,

nie mehr, ach, nimmermehr! Das ist mein künftig Sein.

So weh das Herz - wer könnt ihm jemals Trost verleihn?

Endlos die Liebe ist! Enttäuscht die Liebe mein.
Ein Abend spät - der erste Mai -

ein Abendmai - der Liebe Zeit;

das Täubchen ruft zur Lieb herbei.

"O Hynek! - Wilhelm!! - Jarmila!!!!"