„Damit das Gerede von der Unübersetzbarkeit Máchas endlich aufhört“ – Ondřej Cikán und sein „Mai“

„Es war spät Abend – erster Mai – / Abends der Mai war Liebeszeit.“ So beginnt Karel Hynek Máchas Versepos „Máj“ („Mai“). Der Titel ist eines der bedeutendsten Werke der tschechischen Literatur. Bis heute zählt er in Tschechien zum Kanon der Schullektüre und wird vor allem am 1. Mai gern zitiert – denn das ist in Tschechien der Tag der Liebe. Ondřej Cikán hat das Buch neuübersetzt.

Karel Hynek Mácha

In den 824 Versen des „Mai“ beschreibt Mácha nicht nur die Schönheit der Natur, sondern auch die Liebesgeschichte von Wilhelm und Jarmila. Wilhelm hat nichtwissend seinen Vater getötet, der sein Nebenbuhler war. Nun erwartet ihn die Hinrichtung. Mehr noch als für seinen Inhalt ist das Liebesepos aber für seine ausgefeilte Sprachgestaltung bekannt.

Das 1836 erschienene Buch wurde im Laufe der Jahrzehnte mehrmals übersetzt. Die nunmehr achte und aktuellste Übersetzung ins Deutsche hat Ondřej Cikán 2012 vorgelegt. Das mittlerweile vergriffene Buch erhielt 2020 eine Neuauflage und erschien im Wiener Verlag Kētos.

In seinem umfangreichen Nachwort schreibt Ondřej Cikán, er habe den „Mai“ übersetzt, „damit das Gerede von der Unübersetzbarkeit Máchas endlich aufhört“. Gegenüber Radio Prag International erzählt er nicht nur, warum der „Mai“ in Tschechien derart beliebt ist, sondern auch, wie er bei der Übersetzung vorgegangen ist und was die Schwierigkeiten waren.

Ondřej Cikán | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Herr Cikán, wieso ist dieses Epos in Tschechien so unglaublich beliebt?

„Dieses Gedicht ist vor allem wunderschön. Außerdem ist es auch sehr einflussreich auf die tschechische Literatur gewesen – und überhaupt für die ganze tschechische Sprache. Karel Hynek Mácha hat das Gedicht 1836 kurz vor seinem Tod geschrieben. 100 Jahre später, in den 1920er und 1930er Jahren war der ‚Mai‘ von Karel Hynek Mácha eine der größten Inspirationsquelle für die tschechischen Surrealisten und Poetisten. Denn der ‚Mai‘ nimmt den Surrealismus bereits vorweg und ist zugleich extrem musikalisch und lautmalerisch. Mácha hat sehr gut verstanden, in welche Richtung sich die tschechische Sprache entwickeln wird. Andererseits hat sich das Tschechische auch mit dem ‚Mai‘ weiterentwickelt.“

Was ist Ihre Lieblingsstelle in dem romantischen Liebesepos? Könnten Sie uns ein Stück vorlesen?

„Ich habe viele Lieblingsstellen, aber besonders schön finde ich die Stelle, an der sich der Held, Wilhelm, von der Erde verabschiedet.

Er sieht die fahlen Dünste im Azur vergehen,

Den leichten Hauch mit ihnen spielen;

Und oben hoch – nach fernen Zielen

Die weißen Wolken durch den Himmel wehen,

Und traurig spricht der Häftling sie nun an:

»Die ihr auf eurer weit gespannten Bahn

»Die Erde mit geheimnisvollem Arm umfaßt,

»Zerflossene Sterne, Schatten des Himmelblaus,

»Hinterbliebne, euch selbst gilt eure Trauer,

»Wenn ihr zerrinnt zu einem Tränenschauer,

»Ich wählte euch als meine Boten aus.

»Wo ihr auf eurer Bahn euch treiben laßt,

»Auch dort, wo Ufer stehn auf euren Wegen,

»Dort bringt der Erde meinen Gruß entgegen.

»Ach schöne Erde, liebe Erde, mein

»Grab, meine Wiege, meine Mutter, meine

»Heimat, sie nur sollte mein Erbe sein,

»Weite Erbe, nur sie, sonst gibt es keine! –

»Wenn euer Lauf einst jenen Felsen sieht –

»Wo am Gestade dort – und dort ein Mädchen weinen – «

Karel Hynek Mácha: Mai

Vítězslav Nezval | Foto:  Tschechischer Rundfunk

Hier bricht die direkte Rede ab. Er kann nicht mehr weiter, weil er an das Mädchen denkt, von dem er sich verabschieden muss. Im nächsten Vers folgt nur noch: ‚Er schweigt jetzt. Träne, die die Träne flieht.‘ Und dann beginnt die Beschreibung seiner Hinrichtung. Besonders schön an dieser Stelle ist das Bild der Wolken, die als ‚zerflossene Sterne‘ und ‚Schatten des Himmelblaus‘ beschrieben werden. Genau diesen Vers zitiert Vítězslav Nezval in seinem Gedicht ‚Edison‘, das ich jetzt übersetzt habe und das vor Kurzem bei Kētos erschienen ist. Bei ‚Zerflossene Sterne, Schatten des Himmelblaus‘ weiß natürlich jeder Tscheche, wo das herkommt.“

Erste Auflage des Gedichts „Mai“ von 1836

Als Sie den „Mai“ übersetzt haben, waren Sie in jenem Alter, in dem Mácha gestorben ist, oder?

„Karel Hynek Mácha ist mit 25 Jahren gestorben, kurz vor seinem Geburtstag. Ich habe das Epos 2010 übersetzt, das heißt ich, war auch ungefähr 24 oder 25 Jahre alt. Eigentlich wollte ich mich dem ‚Mai‘ schon viel eher widmen. Nur ging das leider nicht. Man braucht ein bisschen Übung, um die Reime und die Rhythmen nachahmen zu können. Deshalb habe ich erst einmal begonnen, auf Deutsch die tschechische Dichtung nachzubilden. Als ich dann bereit war, habe ich es übersetzt.“

Warum haben Sie beschlossen, den „Mai“ ins Deutsche zu übertragen?

Foto: Radio Prague International

„Ich wollte schon zu meiner Zeit am Gymnasium meinen Freunden – aber vor allem meinen Freundinnen – zeigen, dass die tschechische Dichtung sehr leidenschaftlich und schön ist. Das ging mit den damaligen Übersetzungen nicht so gut. In der Maturaklasse habe ich ein Referat über den ‚Mai‘ gehalten und eine recht bekannte und gar nicht so schlechte Übersetzung verwendet. Nach meinem Vortrag habe ich meine Deutschlehrerin gefragt, ob es ihr nicht gefallen hat und ob sie nicht findet, dass der ‚Mai‘ das beste aller Gedichte sei. Sie sagte jedoch: ‚Naja, ein bisschen holpert es aber schon.‘ Da habe ich mir gedacht: ‚Ach verdammt! Das liegt doch an der Übersetzung! Das kann man doch nicht dem Mácha vorwerfen!‘ Aber wenn man die Ausgangssprache nicht gut kennt, dann muss man der Übersetzung vertrauen. Und wenn die holprig ist, dann beschädigt das langfristig das Original. Also musste ich ihn einfach übersetzen.“

Worin unterscheidet sich denn Ihre Übersetzung?

„Das Besondere an meiner Version ist, dass ich anders mit dem Rhythmus umgehe als fast alle bisherigen Übersetzungen. Zwar gab es eine sehr gute Ausgabe aus den 1930er Jahren, doch die ist leider verschollen. Ansonsten wird fast in allen Übertragungen der jambische Rhythmus Máchas als reine Jamben übernommen. Die Übersetzer denken sich, dass man sich im Tschechischen offenbar Freiheiten erlauben darf, man aber im Deutschen in reinen Jamben schreibt. Deswegen hört sich dann dieses Epos an wie eine Nähmaschine. Durch die selbstauferlegte Strenge des Rhythmus haben die Übersetzer zudem viel weniger Freiheiten für die Lautmalerei, die poetischen Bilder und den Inhalt. Zudem verdrehen sie oft die Wortstellung, damit sich die Reime ausgehen. Beispielsweise lautet der Beginn des ‚Mai‘ auf Tschechisch:

Byl pozdní večer – první máj –

Večerní máj – byl lásky čas.

Hrdliččin zval ku lásce hlas,

Kde borový zaváněl háj.

Karel Hynek Mácha: Mai (tschechische Auflage)

Diese Passage ist eigentlich in vierhebigen Jamben geschrieben, aber diese können verschiedentlich aufgelöst werden. Mácha führt die drei Hauptvarianten gleich in den ersten Versen ein. In meiner Übersetzung habe ich das übernommen. und zugleich hatte ich dann an vielen Stellen Freiheiten. Die ersten vier Verse lauten bei mir:

Es war spät Abend – erster Mai –

Abends der Mai war Liebeszeit.

Das Täubchen rief zur Lieb herbei,

Der Föhrenhain duftete weit.

Karel Hynek Mácha: Mai

Autorenlesung mit Ondřej Cikán 2012 | Foto:  Tschechisches Fernsehen

Da Mácha relativ frei mit dem Metrum umgeht, kann man in der Übersetzung auch frei sein, solange natürlich der Effekt derselbe bleibt. Zudem ist das Reimschema bei Mácha nicht immer einheitlich. Es ist hier also möglich, in der Übersetzung abzuweichen. Wenn man diese Freiheiten übernimmt, kann man sich noch vielmehr auf den Text und auf den Klang konzentrieren. Es gibt aber auch Passagen, die extrem streng rhythmisiert sind und dadurch besonders hervorstechen. Diese Stellen muss man dann natürlich entsprechend übernehmen, damit es ordentlich rollt.“

Karel Hynek Mácha | Quelle: Wikimedia Commons,  public domain

Was war denn das Schwierigste beim Übersetzen? Waren es diese Stellen?

„Die schwierigste Passage war gerade besonders wichtig. Sie wird von Nezval und anderen modernen Dichtern als Beispiel für Máchas Präsurrealismus verwendet. Die Stelle war besonders herausfordernd, weil der Rhythmus plötzlich ein anderer ist, aber dennoch in sich einheitlich bleibt. Ich musste mich entscheiden, ob ich diese Außergewöhnlichkeit des Rhythmus übernehme und dann aber nicht ganz präzise übersetze, oder ob ich näher am Ausgangstext bleibe, alles in Jamben ist, aber dafür das Besondere verloren geht:

Es sind zwei Tränen auch aus meinem Blick gesunken,

Spielten mir im Gesicht wie auf dem See die Funken.

Auch meine schöne Zeit, auch meiner Kindheit Zeit

Zerrte mir fort der Jahre wilde Grausamkeit,

Wie ein Schatten erstirbt, weit ist auch jener Traum,

Bild einer weißen Stadt tief unterm Wogenschaum,

Wie der Verstorbenen letzter Gedanke bricht

So ihre Namen auch, uralter Schlachten Wut,

Ferner nördlicher Schein, sein verloschenes Licht,

Berstender Harfe Ton, reißender Saite Sang,

Zeit vergangener Welt, toter Gestirne Flut,

Letzte Kometenbahn, toter Geliebten Glut,

Längst vergessenes Grab, Ende der Ewigkeit,

Kältesten Feuers Rauch, schmelzender Glocke Klang,

Singender toter Schwan, Paradies, das vorbei

Ist für alle. – Das ist meine Kindheit.

Karel Hynek Mácha: Mai

Und das ist natürlich eine super Stelle, weil man eine Reihe von Bildern hat, die eigentlich mit der Kindheit nichts zu tun haben. Nur durch diesen Abschluss werden sie damit assoziativ in Verbindung gebracht. Eigentlich heißt es nicht ‚berstender Harfe Ton‘, sondern ‚geborstener Harfe Ton‘. Das würde sich im normalen jambischen Rhythmus ausgehen. Aber diese Stelle ist dadurch besonders, dass sie mit der Betonung anfängt. Der Rhythmus wird dadurch aufdringlich und treibend. Deshalb habe ich beschlossen, statt ‚geborstener Harfe Ton‘ ‚berstender Harfe Ton‘ zu schreiben. Ich hoffe, dass durch den Zusammenhang klar ist, dass die Harfe geborsten und kaputt ist – genauso wie die Kindheit, die vergangen ist und trotzdem noch einen Ton von sich gibt.“

Ausgabe von 2012 | Quelle:  Verlag Labor

Was ist der Unterschied zwischen der Ausgabe von 2012 und der 2020 erschienen Übersetzung?

„Der Hauptunterschied ist das Nachwort. Die Ausgabe von 2012 hat einen Kommentar, den ich damals geschrieben habe, als ich noch sehr jung war. Der Verlag wollte nicht, dass ich ein ausführlicheres Nachwort schreibe – ich hätte es auch nicht können. Damals war ich noch nicht so im Bilde. Diese neue Ausgabe hat nun einen ausführlichen Anmerkungsapparat – zu allen möglichen Übersetzungsproblemen, zu Mácha selbst und zur Rezeption des ‚Mai‘. Ich denke, es macht Spaß, das zu lesen. Außerdem findet sich dort die aktuellste und vollständigste Bibliographie von allen Übersetzung des ‚Mai‘ in sämtliche Sprachen.“

Sie zählen 22 Sprachen auf, in die der „Mai“ übersetzt wurde. Haben Sie diese bereits bestehenden Übersetzungen als Inspirationsquelle genutzt?

Zeichen von Antonín Šilar

„Nein. Als ich mit der Übersetzung begann – mit 24,24 Jahren – habe ich mir auch die bisherigen bestehenden deutschen Übersetzungen kaum angeschaut. Erst im Nachhinein habe ich darin die Bestätigung gesucht, dass es gut und in Ordnung war, den ‚Mai‘ neuübersetzt zu haben. Ich wollte mich davor nicht zu sehr beeinflussen lassen.“

Denken Sie denn daran, den „Mai“ noch einmal zu überarbeiten?

„Nein, ich denke, ich werde nicht mehr allzu viel ändern. Ich habe überlegt, ob ich für diese Ausgabe stärker eingreifen sollte, habe das aber nicht getan. Nur Stellen, die rhythmisch nicht ganz flüssig waren, habe ich korrigiert. Ich hatte ansonsten nur einen einzigen richtigen Übersetzungsfehler drin.“

Ihr „Mai“ ist im Verlag Kētos in Wien erschienen, den Sie auch leiten. Was gibt es Neues im Verlag?

Jana Černá | Quelle:  Wikimedia Commons,  public domain

„Wir haben jetzt eine Anthologie mit Gedichten von Vítězslav Nezval herausgebracht. Sie hängt stark mit Mácha zusammen. Nezval war stark vom ‚Mai‘ inspiriert und hat versucht, gutklingende Langgedichte zu schreiben. Ansonsten hat vor Kurzem Martina Lisa eine Anthologie von Jana Černá herausgebracht. Černá, die auch unter dem Namen Honza Krejcarová bekannt war, war bis in die 1980er Jahre hinein eine bedeutende Underground-Dichterin. Ihr Liebesbrief an den Philosophen Egon Bondy gilt als Meisterwerk der tschechischen erotischen Literatur. Ich denke, das ist ein sehr schönes Buch geworden. Der Verlag Kētos achtet ansonsten stark darauf, dass die Bücher aufeinander aufbauen. In den Nachwörtern bringen wir die einzelnen Titel miteinander in Verbindung. Wenn wir zum Beispiel den ‚Mai‘ veröffentlichen, dann folgen hinterher die tschechischen Symbolisten wie Otokar Březina oder Karel Hlaváček, die von Mácha inspiriert waren. Daran schließen sich dann die Poetisten wie Nezval an. Jana Černá wiederum war von Nezval beeinflusst.“

Wollen Sie unseren Hörern noch etwas mit auf den Weg geben?

„Den ‚Mai‘ von Karel Hynek Mácha muss man am 1. Mai einfach lesen. Denn das ist ja schließlich vor allem der Tag der Liebe.“

Karel Hynek Mácha: Mai

  • übersetzt und mit Nachwort versehen von Ondřej Cikán
  • illustriert von Antonín Šilar
  • erschienen im März 2020
  • 160 Seiten
  • Hardcover mit Fadenbindung und Lesebändchen
  • 20 Euro
  • ISBN: 978-3-903124-09-7
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