Workshop in Prag: Literatur ehemaliger deutscher Bewohner weckt in Tschechien Interesse

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Unter dem Titel „Deutschsprachige Literatur aus Böhmen für tschechische Leser“ fand am vergangenen Freitag ein Workshop in der Prager Stadtbibliothek statt. Martina Schneibergová war für Radio Prag International dabei.

Literaturwissenschaftler sowie Vertreter von Bibliotheken und Verlagen aus verschiedenen Regionen Tschechiens sind am Freitag vergangener Woche in der Prager Stadtbibliothek zusammengekommen. Es handelte sich um einen Workshop, bei dem die deutschsprachige Literatur aus Böhmen, Mähren und Schlesien und ihre Übersetzungen für tschechische Leser im Mittelpunkt standen. Veranstalter des Seminars war der Adalbert-Stifter-Verein aus München. Nach dem Workshop entspann sich das folgende Gespräch mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Vereins, Anna Knechtel.

Wie ist die Idee für diesen Workshop über die deutsche Literatur aus Böhmen und Mähren entstanden?

Quele: Bibliothek Liberec

„Es ist eigentlich schon ein alter Gedanke, ein Wunsch von mir auf lange Sicht. Im Rahmen meiner Arbeit beim Adalbert-Stifter-Verein, der sich ja mit der Kultur der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien befasst, bin ich irgendwie dazu gekommen, immer mehr Literatur von Deutschen zu lesen. Und wohlgemerkt regionale Literatur, also nicht die bekannten Autoren aus Prag wie Brod, Werfel, Kafka sowie viele andere wie Perutz und Urzidil, sondern wirklich Autoren aus den Grenzregionen, den sogenannten Sudetengebieten. Das ist, kann man schon sagen, keine Weltliteratur. Aber sie ist sehr interessant, da sie das Leben in diesen Regionen beschreibt. Und zwar sind es sehr unterschiedliche Regionen: Südmähren, Egerland, Böhmerwald oder Altvatergebirge. Überall gab es Autoren, die beschrieben haben, wie man dort gelebt hat, welche Bräuche es gab, wie die Landschaft aussah und wie das Wetter ist. Natürlich sammelten sie auch Märchen und Sagen, die für diese Regionen typisch waren. Das Wissen über diese Art von Literatur wird jedoch immer weniger, weil die Leute, die sich damit auskennen, wegsterben. Ich habe mir immer wieder gedacht, dass diese Literatur vielleicht die Menschen interessieren könnte, die heute in diesen Gegenden leben, und ich mehrfach gemerkt habe, dass bei ihnen wenig Wissen vorhanden ist. Es gibt keine Kontinuität natürlich durch diesen Bevölkerungswechsel, durch die Vertreibung. Und manchen Bewohnern in den Gegenden fehlt einfach das Wissen über diese alten Zeiten. Und so kam ich auf die Idee, man könnte doch mal tschechische Verlage ansprechen und ein bisschen reizen, solche Literatur herauszugeben.“

Bei dem Workshop wurden einige Beispiele aus der letzten Zeit dafür genannt, dass eben solche regionalen Schriftsteller ins Tschechische übersetzt wurden. Wie ist das Echo in den Regionen? Weiß man das?

Marek Sekyra,  Otokar Simm: Lausitzer Blumen | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Nein. Ich habe wirklich gedacht, dass niemand diese regionale Literatur aus diesen einzelnen Gegenden kennt. Die Vorträge, die wir gehört haben, waren wirklich hervorragend. Dabei kam etwas für mich heraus, was ich nicht geahnt habe – und zwar, wie viel von dieser Literatur schon übersetzt ist. Es ist unglaublich. Die Referenten waren alles renommierte Literaturwissenschaftler aus der Tschechischen Republik, die sich auskennen und einen Überblick haben. Wir hatten da Marek Sekyra und Františka Dudková Párysová von der Nordböhmischen Bibliothek in Reichenberg (Liberec), die über ihre Aktivitäten berichtet haben. Und die haben wirklich alte Literatur durchstöbert und bereits fünf Bücher herausgegeben, die heißen ,Iserblumen‘, ,Jeschkenblumen‘, ,Polzenblumen‘, jetzt kürzlich erschienen die ,Lausitzerblumen‘. Und sie beide organisieren zudem für interessierte Leser Spaziergänge auf den Spuren dieser Personen. Oder Václav Petrbok von der Akademie der Wissenschaften, der auch in Aussig (Ústí nad Labem) tätig ist, hat uns einen grandiosen Überblick geliefert über einerseits Handbücher, Lexika und Anthologien, die auf Tschechisch herausgekommen sind, sowie andererseits einzelne Romane und Erzählungssammlungen, die es bereits auf Tschechisch gibt. Was man jetzt natürlich gerne wüsste: Ob diese Bücher nur veröffentlicht wurden, oder ob sie auch gekauft und sogar gelesen werden. Dazu müsste man Zeitungen, Rezensionen durchforsten und alle möglichen Menschen befragen. Das ist aber nicht möglich. Im Publikum herrschte eine so interessierte Stimmung, dass es vielleicht auch eine Fortsetzung dieses Treffens gibt. Zu Wort gemeldet hat sich beispielsweise Martin Sichinger, der das das Festival ,Šumava Litera‘ veranstaltet, bei dem mittlerweile seit zehn Jahren Südböhmen, der Böhmerwald, Bayern und Niederösterreich zusammenarbeiten. Bei dem Festival werden jedes Jahr Preise verliehen und Bücher wirklich aus allen Gebieten vorgestellt. Bei einem derartigen Workshop herrscht schon ein großes Einvernehmen, ein großer Austausch. In der heutigen Zeit ist es ja nicht schwierig, sowas auch in einem größeren Umfang zu machen.“

Marek Sekyra,  Otokar Simm: Lausitzer Blumen | Foto repro: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Herr Sichinger sprach von seiner Erfahrung, dass auf deutscher Seite eher die ältere Generation erscheine, wenn er eine Veranstaltung zu dem Thema organisiere. Zugleich erzählte er, dass auf tschechischer Seite viele junge Leute an dieser Literatur interessiert seien. Das klang sehr hoffnungsvoll…

Martin Sichinger | Foto: Barbora Němcová,  Radio Prague International

„Ja, das stimmt. Die beiden erwähnten Leute von der Bibliothek in Liberec haben aber etwas ganz Entgegengesetztes erzählt. Sie sagten, an ihren Ausflügen und Lesungen würden Menschen teilnehmen, die die sogenannte ,Universität des dritten Alters‘ besuchen – also Senioren. Aber es soll alles geben, und wer weiß, vielleicht weitet sich das ja noch aus.“

Wer waren die Partner der Veranstaltung?

„Der Adalbert-Stifter-Verein war Hauptorganisator, aber ich betrachte auch die Referenten als Partner: Václav Petrbok, Marek Sekyra und Františka Dudková Párysová aus Reichenberg (Liberec). Wir hatten zudem den Spezialisten für deutsch-böhmische Böhmerwald-Literatur da, Václav Maidl, der früher in der Bibliothek im Österreichischen Kulturforum tätig war. Er ist auch Herausgeber und Übersetzer, also ziemlich beschlagen in der Böhmerwald-Literatur. Ein Referent ist leider ausgefallen – Jan Budňák wollte über die sogenannte Arbeitsstelle für deutsch-mährische Literatur sprechen, die sich an der Uni Olmütz (Olomouc) befindet. Und nicht zu vergessen, war Radovan Auer einer der Referenten. Er ist Leiter der Buchmesse ,Svět knihy‘ (Welt der Bücher). Er stammt aus Šumperk (Mährisch Schönberg) und hat ein Buch herausgegeben über die Stadtgeschichte sowie ein Buch mit Erinnerungen eines aus Schönberg vertriebenen Sudetendeutschen.“

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Radovan Auer sagte, er verzeichne derzeit ein stark zunehmendes Interesse an der Geschichte von Šumperk sowie an der Literatur der ehemaligen Bewohner. Gegenüber Radio Prag International merkte er an:

Radovan Auer | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Dies hängt damit zusammen, dass es gelungen ist, das Etikett der vertriebenen deutschen Bewohner loszuwerden. Die Menschen wollen mehr über den Ort erfahren, in dem sie leben, und befürchten nicht mehr, dass ihnen jemand ihre Häuser wegnehmen könnte. Wir haben beispielsweise eine Facebook-Gruppe ,Geschichte der Stadt Šumperk‘ ins Leben gerufen, die mehr als 10.000 Menschen umfasst. Sie unterhalten sich aktiv über die Geschichte und tauschen Fotos aus. Ich würde sagen, dass wir einen Boom des Interesses für lokale Geschichte und Literatur erleben.“

Radovan Auer präsentierte beim Workshop zwei Bücher aus der Region, die in tschechischer Übersetzung erschienen sind.

Helmut Kopetzky: Byl jsem sudeťák | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Wir haben die Geschichte der Stadt Mährisch-Schönberg von Franz Harrer in tschechischer Übersetzung herausgegeben. Das Originalbuch erschien 1923. Franz Harrer ist Begründer des Stadtmuseums in Šumperk. Seine Geschichte der Stadt erschien nie auf Tschechisch, das ist uns erst jetzt nach 100 Jahren gelungen. Außerdem haben wir das Buch ,Byl jsem Sudeťák‘ (Ich war ein Sudetendeutscher) von Helmut Kopetzky veröffentlicht. Kopetzky verließ mit sechs Jahren Šumperk. Das Buch betrifft das Schicksal der vertriebenen Bewohner.“