Philosoph Němec: Pandemie zeigt, wer ist wer in Gesellschaft

Václav Němec (Foto: Věra Luptáková, Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Keiner kann gegenwärtig mit Sicherheit sagen, ob die Coronavirus-Pandemie schon auf ihren Höhepunkt zusteuert, oder ob die schwierigste Phase der Seuche erst noch bevorsteht. Dennoch machen sich bestimmte Experten bereits Gedanken darüber, wie es danach weitergehen könnte oder sollte. Denn eine solch große Krise birgt ebenso Chancen auf Veränderungen. Diese Meinung vertritt auch der Philosoph Václav Němec. Der Tschechische Rundfunk hat mit dem Dozenten der Prager Karlsuniversität gesprochen.

Václav Němec  (Foto: Věra Luptáková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Tiefe Einschränkungen in die Bewegungs- und Reisefreiheit, Kurzarbeit, Quarantäne und vieles mehr – die Liste der Maßnahmen ist lang, mit denen die tschechische Regierung hierzulande versucht, die Coronavirus-Pandemie einzudämmen. Und nahezu jedem wird klar: Dort, wo kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, wird sich am Ende der Krise so manches ändern. Doch wie nachhaltig werden diese Veränderungen sein? Václav Němec:

„Das ist sehr schwer einzuschätzen. Jetzt ist es zu einer radikalen Änderung des Lebens gekommen. Die Pandemie hat uns aus der Bahn geworfen, und wir bemerken eine Umstellung unseres Verhaltens. Es bleibt natürlich die Frage, ob diese Veränderungen dauerhaft sein werden. Persönlich vermute ich, dass die Welt, und vornehmlich die westliche, der wir angehören, nach der Pandemie nicht mehr dieselbe sein wird.“

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Die Menschen in den von der Pandemie betroffenen Ländern machen gegenwärtig eine Reihe von Grenzerfahrungen, denn sie müssen auf viele Dinge ihres bisherigen Lebens verzichten. Dadurch könne man aber auch Gewohnheiten hinterfragen, meint Němec:

„Grenzsituationen sind zugleich eine Gelegenheit für eine Umwälzung. Man kann etwas voranbringen. Oder vielleicht auch die bisherige Lebensweise ändern. Es ist die Möglichkeit, innezuhalten und darüber nachzudenken, ob einige Dinge nicht vielleicht einfacher funktionieren könnten.“

Nach Ansicht von Němec hinterlässt die Corona-Krise derzeit ihre spürbarsten Auswirkungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Denn man habe wieder Zeit, öfter und tiefgründiger miteinander zu reden, meint der Philosoph:

Václav Němec: „Grenzsituationen sind zugleich eine Gelegenheit für eine Umwälzung. Man kann etwas voranbringen. Oder vielleicht auch die bisherige Lebensweise ändern. Es ist die Möglichkeit, innezuhalten und darüber nachzudenken, ob einige Dinge nicht vielleicht einfacher funktionieren könnten.“

„In der Gesellschaft ist eine Welle der Solidarität zu sehen, die durch gegenseitige Hilfe immer mehr angewachsen ist. Und jene, die früher eher gleichgültig waren, helfen auf einmal auch. Dabei ist der Erfindergeist, insbesondere der Tschechen, in diesen Grenzsituationen umstandswörtlich.“

In der Coronavirus-Pandemie sieht Němec auch eine Chance, die es zu nutzen gilt. Damit es dazu komme, spielten mehrere Faktoren eine Rolle, so der Unidozent:

„Viel hängt davon ab, ob die Gesellschaft neurotisch reagiert. Das heißt, ob sie mit Regression auf scheinbar bewährte Verhaltensmuster aus der Vergangenheit reagiert, oder ob sie dies als eine Herausforderung annimmt. Es muss sich zeigen, ob wir auch ohne manche Dinge weitermachen können, auf die wir jetzt auf einmal gut verzichten können. Man wird sehen, ob das dauerhaft möglich ist.“

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Václav Němec belässt es aber nicht nur bei Allgemeinplätzen, sondern nennt auch einen konkreten Bereich, den man überdenken sollte:

„Ein Kapitel für sich ist die Wirtschaft. Man spricht bereits über die ökonomischen Folgen der Pandemie, und darüber, dass es wieder die Schwächsten trifft. Aber der Moment des Innehaltens zeigt uns, dass wir uns plötzlich in einer Distanz zu dem gesamten sozioökonomischen System befinden, in das wir uns verwickelt haben. Ein System, in dem wir ständig, wie es so schön heißt, wie im Hamsterrad laufen, das jetzt aber stillsteht. Wir sollten uns fragen, ob das Primat der Wirtschaft, das Streben nach Produktivität und Verbrauch, das ist, was die Gesellschaft wirklich glücklicher macht. Vielleicht könnten wir überlegen, ob wir einige Prioritäten und Werte nicht ganz anders setzen könnten.“

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Die strikten Maßnahmen der Regierungen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus offenbaren aber ebenso, wie es ist, wenn man sich abschottet. Das führt folgerichtig zu der Frage, ob nicht ein Teil der Gesellschaft auch nach der Krise bereit wäre, gewisse Freiheiten zugunsten von mehr Sicherheit abzutreten. Němec hat dazu eine klare Antwort:

„Ich hoffe nicht. Ich denke, die Mehrzahl der Menschen, zumindest jene aus den demokratischen Ländern, akzeptiert die Einschränkungen nur unter der Bedingung, dass sie zeitlich begrenzt sind und nur solange aufrechthalten werden, wie es unbedingt nötig ist.“

Leider aber seien durch die Corona-Krise schon einige Verwerfungen zu erkennen, merkt der Philosoph an. Zum Beispiel in Ungarn, wo einige zynische Politiker sich nicht davor scheuten, die menschlichen Tragödien für die Stärkung ihrer eigenen Macht zu nutzen. Dies sollte für Tschechien eine Warnung sein, sagt Němec:

Němec: „Es wirkt nicht besonders überzeugend, wenn ein Politiker zur Einhaltung von Regeln auffordert, aber selbst dies in anderen Zusammenhängen nicht beherzigt. Die Krise dient uns daher als wenig schmeichelhafter Spiegel.“

„Dies zeigt exemplarisch und in voller Abscheu den Charakter solcher Einzeldarsteller. Ich hoffe, dass wir von solchen Tendenzen weit entfernt sind. Dennoch gibt es auch hier in Tschechien viele Politiker, die mit der Demokratie und demokratischen Institutionen so ihre Probleme haben. Wir können nur hoffen, dass sie solchen Versuchen nicht unterliegen. Denn das wäre menschlich sehr widerlich.“

Auf der anderen Seite sind in einer solchen Krise auch Persönlichkeiten gefragt, die zeigen, wo es langgeht, und die dabei auch vorangehen. Philosoph Němec beschreibt dies so:

„Eine Pandemie ist ein konvexer Spiegel, der den Charakter der Gesellschaft in Lebensgröße zeigt. Sie zeigt, wer wer ist.“

Miloš Zeman  (Foto: TV Prima)
Die beiden höchsten Vertreter von Staat und Regierung in Tschechien haben es so auch für notwendig erachtet, sich in dieser schwierigen Zeit mit Fernsehansprachen an das Volk zu wenden: Präsident Miloš Zeman und Premier Andrej Babiš. Den Auftritt des Staatsoberhauptes aber hält Němec allerdings für etwas bedenklich:

„Der Präsident hat erst nach fast drei Wochen den Mundschutz des Schweigens abgelegt, als er sich endlich der Öffentlichkeit zeigte. Er trat aber ohne Mundschutz vor die Kamera und entlarvte sich. Es hatte den Anschein, als wüsste er überhaupt nicht, was in der Gesellschaft vorgeht. So animierte er zum Beispiel die Schauspieler, sie könnten doch jetzt in Altersheimen auftreten. Es war zu sehen, dass wir in der Zeit der Krise einige Politiker haben, die nicht fähig sind, rational und effizient zu handeln.“

Andrej Babiš  (Foto: Archiv des Regierungsamtes der Tschechischen Republik)
Zemans Rede sei nicht sonderlich empathisch gewesen. Zudem sei es dem Präsidenten zum wiederholten Male nicht gelungen, das Volk zu einen, ergänzte Němec.

Gleich zwei Reden vor laufenden Fernsehkameras hat zuletzt auch Premier Andrej Babiš (Partei Ano) gehalten – eine richtete sich direkt an die Bürger, die zweite hielt er im Abgeordnetenhaus. Auch dazu äußerte sich Philosoph Němec:

„Wenn ich abstrahiere, wer die Rede gehalten hat, dann war sie ziemlich staatsmännisch. Sie enthielt das, was ich in einer Ansprache an die Nation von einem Politiker jetzt erwarte. Und in gewisser Weise bin ich froh, dass die Dinge auch angesprochen wurden. Doch wer Babiš kennt, der weiß, dass seine Worte nicht für die Ewigkeit sind. Von daher kann man nicht daraus ableiten, dass das, was er gestern gesagt hat, auch noch in einer Woche oder in 14 Tagen gilt.“

Illustrationsfoto: John Hain,  Pixabay / CC0
Zu seiner eigenen Verwunderung stellt Němec somit fest:

„Wir hatten den Eindruck, als wenn zu uns irgendein ein anderer Andrej Babiš spricht, als der, den wir kennen. Das hätte erfreulich sein können. Doch auf der anderen Seite hat es zugleich den Nachteil gezeigt, wenn in einer Krisenzeit ein Politiker an der Spitze des Staates steht, der die Gesellschaft spaltet. Denn selbst wenn er seiner Meinung nach sein Bestes gegeben hat, wird es immer einen Kreis von Leuten geben, die den Worten des Premiers kein Vertrauen schenken, basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit.“

Und um seine Worte zu verdeutlichen, fügt Němec an:

„Es wirkt nicht besonders überzeugend, wenn ein Politiker zur Einhaltung von Regeln auffordert, aber selbst dies in anderen Zusammenhängen nicht beherzigt. Die Krise dient uns daher als wenig schmeichelhafter Spiegel.“

Václav Němec betont aber auch, dass man in dieser schwierigen Zeit nicht nur auf sich selbst schauen sollte, sondern auch über den eigenen Tellerrand hinaus:

„Ich denke, die Pandemie zeigt uns, wie die Welt miteinander verflochten ist. Sie zeigt uns ebenfalls, dass wir einem solchen Problem nicht als einzelnes, abgeschottetes Land entgegentreten können. Dazu ist vielmehr eine Zusammenarbeit auf internationaler Ebene erforderlich.“

Němec: „Wir haben jetzt Zeit, und diese sollten wir nutzen. Dazu sollten wir einige grundlegende Fragen stellen – und zwar, was wirklich wesentlich ist. Oder was sich an unserer Lebensweise und der gesellschaftlichen Ordnung ändern sollte, damit unser Leben nachhaltig ist.“

Und der Philosoph macht deutlich, wo und warum sich seiner Meinung nach ein Abgrenzen besonders negativ auswirkt:

„Hier zeigt sich unter anderem, dass in einer solchen Lage gerade die Politiker versagen, die populistisch, isolationistisch und nationalistisch auftreten. Wir sehen das zum Beispiel bei US-Präsident Donald Trump, aber meiner Ansicht nach auch im Fall des britischen Premiers Boris Johnson. Da zeigt sich, dass die isolationistische und nationale Position keine Perspektive hat.“

Abschließend verweist Václav Němec erneut darauf, dass wir uns jetzt, in der Zeit des eingeschränkten Lebens, doch Gedanken um die Zukunft nach der Krise machen sollten:

„Wir haben jetzt Zeit, und diese sollten wir nutzen. Ich denke, es wäre ein Fehler, wenn wir das nicht als Herausforderung annehmen. Dazu sollten wir einige grundlegende Fragen stellen – und zwar, was wirklich wesentlich ist. Oder was sich an unserer Lebensweise und der gesellschaftlichen Ordnung ändern sollte, damit unser Leben nachhaltig ist.“