Premysl Pitter
"Baut man mit Eisen, rostet das Metall. Baut man mit Holz, wird dieses morsch, sogar Marmor bekommt Risse. Aber unser Material, die Kinderseele, ist für die Ewigkeit." So lautete das Motto von Premysl Pitter, der sein ganzes Leben lang Anderen geholfen hat, vor allem Kindern, ganz gleich ob sie nun Tschechen, Deutsche oder Juden waren. Er war überzeugt, dass jedes Kind, ganz egal welcher Abstammung es ist, ein Recht auf eine menschenwürdige Behandlung und Bildung hat. Im heutigen Kapitel aus der tschechischen Geschichte wollen wir dieses grossen Humanisten, Pädagogen und Pazifisten gedenken, der vor 25 Jahren verstarb. Es begrüsst Sie dazu Katrin Bock.
Christ und Pazifist kehrte Pitter aus dem Krieg nach Prag zurück und fand zugleich sein neues Wirkungsfeld: Bestürzt vom Schicksal der vielen Kriegswitwen und -waisen begann er, sich im Prager Arbeitervorort Zizkov um Kinder aus ärmlichen Familien zu kümmern. Heute würde man seine Tätigkeit als sinnvolle Freizeitgestaltung für gefährdete Kinder und Jugendliche bezeichnen - damals war es etwas Neues, ja Revolutionäres. Einen Fantast nannten ihn viele, doch Pitter gelang es stets, seine fantastisch anmutenden Ideen zu verwirklichen - wie z.B. das Milicuv dum - das Milic-Haus, das mit Hilfe von Spenden gebaut und 1933 im Prager Vorort Zizkov eröffnet wurde. Die heute 73jährige Blanka Sedlackova gehörte zu den Kindern, die diesen Kinderhort besuchten.
"Mit 10 begann ich mit meiner Schwester regelmässig dorthin zu gehen. Das Milic-Haus war einmalig in der Tschechoslowakei, vielleicht auch in ganz Europa, zumindest vom geistigen Standpunkt aus. Premysl Pitter war so freundlich und stets gut gelaunt, er verstand uns Kinder und wirkte überhaupt nicht autoritär. Wir haben ihn alle Onkel genannt und kamen mit all unseren Problemen zu ihm. Für ihn waren moralische Werte von grosser Bedeutung - die Wahrheit sagen, sich gegenseitig helfen. Kinder aus den verschiedensten politischen und religiösen Familien kamen in das Milic-Haus".
Das Milic-Haus, in dem die Kinder in ungezwungener Atmosphäre ihre Nachmittage verbrachten, war bald in der ganzen Republik bekannt und auch im Ausland interessierte man sich für Pitters Arbeit - Pitter wurde als Erzieher, Humanist und vor allem Pazifist geschätzt, für den sich auch Albert Einstein einsetzte, als ihm in den 30er Jahren eine Gefängnisstrafe wegen der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern drohte.
Am 15. März 1939 besetzten die deutschen Truppen Böhmen und Mähren. Im Protektorat begann wie überall im deutschen Reich die Verfolgung der Juden. Pitter öffnete das Milic-Haus für jüdische Kinder, die von jeglichen Schulen, Kulturveranstaltungen und ähnlichem ausgeschlossen waren. Zudem versorgte er deren Familien des nachts mit Lebensmitteln. Blanka Sedlackova erinnert sich an diese Zeit:
"Während der Okkupation war das Milic-Haus wie eine Oase für uns alle. Dort konnten wir alles vergessen. Für jüdische Kinder war es zudem der einzige Ort, an dem sie mit anderen Kindern zusammen spielen konnten, wo sie sich Bücher ausleihen konnten, an dem sie sich nicht diskriminiert fühlten."
Das Handeln Pitters blieb natürlich nicht unentdeckt. Die Gestapo lud ihn vor - seine Verhaftung und Verurteilung schien unausweichlich.
"Eines Tages haben sie ihn zum Gestapo-Hauptquartier gebracht und ihm vorgeworfen, dass er jüdischen Kindern helfe. Pitter konnte nicht lügen. Er schaute den Mann mit festem Blick an, gab alles zu und sagte "Aber vom menschlichen Standpunkt, bin ich mir sicher, können Sie wohl verstehen, warum ich das mache". Eine Totenstille trat ein, dann sagte der Gestapo-Beamte: "Sie können gehen". Das war eine Art Wunder, man könnte sagen Gottes Wille, oder zumindest eine höhere Fügung."
Bis 1941 konnte Pitter den jüdischen Kindern und ihren Familien helfen, dann jedoch begannen die Deportationen. Nur wenige jüdische Kinder überlebten den Holocaust - und ihnen galt Pitters Sorge nach Kriegsende.
Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machte sich Pitter an die Arbeit - er wollte jüdischen Kindern, die aus Konzentrationslagern zurückkehrten und ihre Familien verloren hatten, helfen. Vom revolutionären Ausschuss erhielt Pitter für diesen Zweck vier Schlösser in der Nähe von Prag, deren ehemalige deutsche Besitzer enteignet wurden. So begann die grösste und bewundernswerteste Tätigkeit Premysl Pitters - die "Aktion Schlösser": 2 Jahre lang konnten sich jüdische und deutsche Kinder unter seiner Obhut erholen.
Am 22. Mai 1945 begrüsste Pitter die ersten 25 jüdischen Kinder, die er in elendem Zustand im ehemaligen Ghetto Theresienstadt gefunden hatte. Einer von ihnen war der damals 14jährige Jehuda Bacon, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hatte. Heute lebt er als Künstler in Israel. Für ihn wie für die meisten anderen Kinder war die Begegnung mit Pitter ein einschneidendes Erlebnis:
"Nach dem Krieg trauten wir niemandem mehr. Warum sollten die Menschen plötzlich wieder nett zu uns sein? Und da kam Premysl Pitter, der für uns alle zum Symbol des Guten wurde, und der langsam unser Herz gewann. Wir fassten wieder Vertrauen und begannen wieder an die Menschheit zu glauben. Das war sein grösster Verdienst."
Durch Zufall wurde Pitter auf ein anderes, grosses - und verdrängtes Problem dieser Zeit aufmerksam - das Schicksal deutscher Kinder, die in den Wirren ihre Eltern verloren hatten. Entsetzt von den Zuständen in den Internierungslagern für Deutsche, in denen diese in menschenunwürdigen Verhältnissen vor sich hin vegetierten, ergriff Pitter die Initiative. Als einer der ganz wenigen Tschechen kritisierte er diese Behandlung der Deutschen. Und er begann deutschen Kindern zu helfen. Die jüdischen Kinder, die die KZs überlebt hatten und sich nun in den Schlössern erholten, mussten entsetzt gewesen sein beim Anblick der deutschen Kinder, die nun zu ihnen kamen und z.T. noch Hitlerjugend-Uniformen trugen. Doch sie hegten keinerlei Hass, im Gegenteil.
"Die Leute aus der Nachbarschaft, die noch voller schlechter Erinnerungen an die Kriegszeit waren, beobachteten Pitters Bemühungen mit Argwohn. Aber wir Kinder, die wir gerade aus Konzentrationslagern zurückgekehrt waren, verstanden besser und konnten sogar mitfühlen."
So lebten ab Juli 1945 jüdische und deutsche Kinder zusammen in Pitters Schlössern, bald war die Zahl der deutschen Kinder weitaus grösser als die der ursprünglichen Bewohner. Für die Kinder glich die Ankunft nach all den erlebten Schrecken und all den Entbehrungen einem Märchen, so auch für den damals 10 Jahre alten Hans Wunder, der zuvor als Kind Deutscher wochenlang in der Festung Theresienstadt interniert gewesen war.
"Mein stärkster Eindruck, das war der Griessbrei. Nach Wochen im Internierungslager mit dünner Suppe gab es Griessbrei mit Himbeersirup, daran werden sich bestimmt die meisten noch erinnern. Und dann die Weihnachtszeit, das war schon beeindruckend für uns alle."
Im Mai 1947 endete die Aktion Schlösser - 200 jüdischen und 600 deutschen Kindern hatten Pitter und seine Mitarbeiter geholfen - und wahrscheinlich auch das Leben gerettet. Viele Tschechen verstanden Pitters Arbeit nicht, immer wieder wurden er und seine Helfer als Deutschenfreunde denunziert. Die meisten deutschen Kinder fanden ihre Eltern wieder, viele jüdische Kinder wanderten nach Palästina aus oder wurden adoptiert.
Mit der Machtergreifung der Kommunisten im Februar 1948 begann eine schwierige Zeit für Pitter. Mit seinen humanistischen, religiösen und antikommunistischen Auffassungen war er den neuen Machthabern ein Dorn im Auge. 1950 wurde das Milic-Haus verstaatlicht, Pitter jegliche Tätigkeit untersagt. Einer sicheren Verhaftung und Verurteilung zu Zwangsarbeit entging er 1951 durch eine rechtzeitige Flucht in den Westen.
Doch auch hier hörte Pitter nicht auf, anderen zu helfen. 10 Jahre lang half er im Flüchtlingslager Valka bei Nürnberg Tausenden von Emigranten aus dem Osten bei ihren ersten Schritten im Westen. 1962 zog er mit seiner Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Olga Fierz nach Affoltern in der Schweiz. Als 1968 nach der Okkupation der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes ein erneuter Flüchtlingsstrom einsetzte, konnte Pitter natürlich nicht untätig bleiben - erneut half er.
In der Schweiz und in Deutschland wurde Pitters Arbeit bereits zu seinen Lebzeiten gewürdigt, in seiner Heimat allerdings blieb er und seine Arbeit so gut wie unbekannt. Erst nach der Samtenen Revolution 1989 konnte erneut an diesen grossen Humanisten und Pädagogen erinnert werden, der am 15. Februar 1976 im Alter von 81 Jahren in der Schweiz starb.
Dass Pitter sein Motto, dass er für die Ewigkeit und somit eine bessere Zukunft arbeite, erfüllte, beweisen die zahlreichen Aussagen seiner Schlosskinder. Stellvertretend für viele drückt dies Brigitte Zarges aus, die als 12jährige im Juli 45 von Pitter gerettet wurde:
"Wichtig bei der ganzen Sache, und das liegt mir wirklich am Herzen, ist, dass ich, obwohl ich hier soviel Schreckliches erlebt habe, dank der Zeit mit Pitter, überhaupt keinen Hass gegenüber den Tschechen fühle."
Eine weitere Sudetendeutsche beschrieb die Bedeutung ihres Aufenthaltes in einem der Schlösser wie folgt:
"Bei Onkel Premysl und Tante Olga, das war für uns Kinder ein Paradies. Da war Güte, da war Liebe, da war Vertrauen, da war jedes Verständnis. Die Begegnung mit ihnen hat den Grossteil unseres weiteren Lebens bestimmt. Sie haben uns aus der ganzen Misere gerettet und uns auch das Weltbild zurechtgerückt. Sie haben uns das Vergessen leicht gemacht und uns soviel Mut gegeben. Onkel Premysl und Tante Olga haben dich einfach als gut eingestuft, und es blieb dir nichts anderes übrig, als gut zu sein. Ich war schon längst erwachsen und habe oft gedacht, würde das Onkel Premysl gefallen, was du jetzt tust?"