Pressestimmen zum irischen Referendum über den Nizza-Vertrag und zu 100 Tagen Spidla-Regierung
Willkommen nun zum Medienspiegel bei Radio Prag. Im Mittelpunkt unserer heutigen Ausgabe stehen Reaktionen der tschechischen Presse auf das irische Referendum über den Nizza-Vertrag am vergangenen Wochenende, weiter haben wir für Sie Kommentare zu den ersten 100 Tagen Amtszeit der neuen tschechischen Regierung unter Vladimir Spidla zusammengestellt. Aus dem Prager Studio begrüßen Sie dazu recht herzlich Robert Schuster und Silja Schultheis.
In der tschechischen Presse fand das irische Ja zum Nizza-Vertrag am Montag breite Beachtung und wurde als positives Votum für den Beitritt des eigenen Landes gewertet. So schreibt etwa die Tageszeitung "Lidove noviny":
"Mit ihrer eindeutigen Zustimmung zum Nizza-Vertrag haben sich die Iren des befürchteten Stempels der undankbaren, egoistischen Euroskeptiker entledigt und ein freundschaftliches Signal in die Kandidatenländer gesendet."
Weiter merkt das Blatt allerdings kritisch an:
"Das irische Drama hat aber ebenso gezeigt, dass auch ein kleines Land wie Irland den großen Plan der EU-Erweiterung ordentlich verkomplizieren kann. Wir können froh sein, dass nur in Irland ein Referendum über den Nizza-Vertrag stattgefunden hat. Es bedurfte zweier Referenden und enormer politischer Anstrengungen, damit die im Grunde pro-europäischen Iren für den neuen Vertrag über die Europäische Union stimmten. Wie eine Volksabstimmung anderswo ausgefallen wäre, darüber kann man nur spekulieren."
Auch das tschechische Magazin "Respekt" beschäftigt sich in seiner jüngsten Ausgabe kritisch mit den Entscheidungsmechanismen innerhalb der Europäischen Union und notiert hierzu:
"Im vergangenen Jahr schafften es eine Million Iren mit ihrem Votum, das EU-Erweiterungsprojekt und damit fast 500 Millionen Menschen in eine Sackgasse zu führen. Jetzt stimmten einige hunderttausend Iren anders, und der Plan aus Brüssel kann ausgeführt werden. Trotz des erfolgreichen Referendums sieht es aber manchmal so aus, als ob in der EU eher der Schwanz mit dem Hund wedelt: Noch kurz vor der Abstimmung in Irland beeinflusste ein anderes kleineres Land mit einer innenpolitischen Krise das Bündnis - die Niederlande."
Ein großes Hindernis, das der EU-Erweiterung noch im Wege stand, hätten die Iren durch ihr Stimmverhalten am Wochenende beseitigt, meint die Tageszeitung "Pravo" und richtet ihren Blick auf den weiteren Beitrittsprozess:
"Die restlichen Hindernisse - nämlich die noch nicht geschlossenen Kapitel - müssen die wartenden Länder nun selbst entfernen. Letztendlich werden aber die Parlamente der jetzigen Mitgliedstaaten über die Erweiterung entscheiden, und hier kann niemand eine Überraschung wie damals in Irland ausschließen. Niemals besaß die EU solch unterschiedliche Mitglieder, wie sie sie nach der geplanten Erweiterung haben wird. Und niemand kann heute sagen, ob das Bündnis dann problemlos funktionieren wird. Aber den Versuch wert ist es allemal."
Themenwechsel: Etwas mehr als 100 Tage sind seit dem Amtsantritt der neuen sozialliberalen Koalitionsregierung unter Vladimir Spidla mittlerweile vergangen, die obligatorische Schonfrist für den Nachfolger von Milos Zeman und seinem Team ist somit abgelaufen - Anlass für die tschechische Presse, Zwischenbilanz zu ziehen über die ersten Schritte des Spidla-Kabinetts - getane wie unterlassene.
Spidlas neues und sehr junges Team habe bei vielen Wählern große Hoffnungen geweckt, erinnert die Zeitung "Mlada fronta dnes". Gerade weil es jung sei und nichts gemeinsam habe mit den 90er Jahren, die geprägt gewesen seien von Korruption, Klientel-Wirtschaft und dem Absterben des Reformeifers. In der Krisensituation habe Spidla jedoch gezeigt, dass er kein geschickter Politiker sei. Dennoch plädiert der Kommentator dafür, der neuen Regierung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:
"Die Minister sind fähig, das Land routinegemäß zu regieren. Aber bislang ist es nicht das tolle, arbeitsfreudige Team, das ursprünglich angekündigt war. Für die Karriere eines Schaffners im Zug in die Europäische Union reicht das. Für die nächsten vier Jahre brauchen wir aber eine Regierung mit mehr Elan", kommentiert "Mlada fronta dnes".
Die Zeitung "Lidove noviny" äußert Verwunderung darüber, dass die tschechischen Bürger Meinungsumfragen zufolge dem Kabinett von Vladimir Spidla bislang eher wohlgesonnen sind, obwohl der Regierung nach 100 Tagen immer noch eine Vision für die Zukunft des Landes fehle und sie während ihrer bisherigen Amtszeit auffällig wenig geschafft habe. Der Autor überlegt daher, wo die Gründe für die Beliebtheit des Spidla-Teams beim Volk liegen könnten:
"Vielleicht entspricht Spidlas gewissermaßen fettarmer, fader Führungsstil der vorherrschenden Stimmung in der tschechischen Gesellschaft. Man entscheidet sich lieber für einen kleinen, aber sicheren Ertrag statt für einen großen, jedoch etwas riskanteren Gewinn. Kaum einer bei uns mag das harte Spiel, in dem sich der stärkste durchsetzt."
Auch die Minister des Spidla-Kabinetts, so der Autor weiter, würden wohl am liebsten den bestehenden Status quo aufrechterhalten, wenn da nicht die mit dem EU-Beitritt verbundenen Verpflichtungen wären, Veränderungen in einigen Bereichen herbeizuführen. Für die weitere Amtszeit der sozialliberalen Koalitionsregierung stellt der Kommentator die folgende Prognose auf:
"Die nächsten fast 1400 Tage der Spidla-Regierung werden sich von den vergangenen 100 kaum unterscheiden. Weit voran kommen werden wir nicht, aber dafür verstauchen wir uns auch nicht den Fuß. Ob dies ein Grund zur Kündigung ist, muss jeder selbst entscheiden."
Abschließend noch ein Auszug aus dem Blatt "Hospodarske noviny", das aus wirtschaflticher Perspektive Bilanz über die ersten 100 Tage Spidla-Regierung zieht:
"In ökonomischer Hinsicht fällt die Bewertung leider negativ aus. Die Privatisierungsentscheidungen haben nicht die Befürchtungen einer zu geringen Transparenz widerlegt und nicht die Erwartungen erfüllt, die in die neue Regierung gesetzt wurden. Die Schritte zur Finanzierung der Hochwasser-Schäden und des Staatshaushaltes für das nächste Jahr haben den mangelnden Willen der Regierung enthüllt, sich um Haushaltsersparnisse zu bemühen und den Missbrauch des Sozialsystems einzudämmen. Positive Aspekte wie die gute Zusammenarbeit mit der Zentralbank können diese Fehler leider nicht wettmachen. Die Zeit wird zeigen, inwieweit die Regierung in der Lage ist, aus ihren Fehlern zu lernen."
Mit diesem Auszug aus dem Blatt "Hospodarske noviny" geht unser heutiger Medienspiegel zuende. Für Ihre Aufmerksamkeit bedanken sich Robert Schuster und Silja Schultheis.