Reich - Ranicki im Prager Goethe-Institut

Von Olaf Barth.

"Die jungen Soldaten sahen also zum ersten Mal in ihrem Leben orthodoxe Juden"

Sie hörten soeben einen Ausschnitt aus der Lesung von Marcel Reich Ranicki im Prager Goethe-Institut, an dem er am Montagabend zum zweiten Mal nach 1996 weilte.

Diesmal allerdings nicht in seiner Funktion als Literaturkritiker, sondern als Autor eines Bestsellers, des autobiographischen Werkes "Mein Leben", in dem er die Stationen seines bewegten Lebens beschreibt und das inzwischen in 13 Sprachen übersetzt wurde.

Der Andrang vor dem Institut war derart riesig, dass viele Interessierte abgewiesen werden mussten. Und dies, obwohl man neben dem Lesungssaal in einem zweiten Raum eine Leinwand aufgebaut hatte, auf der die Lesung ebenfalls zu verfolgen war. Die etwa 150 Glücklichen, denen es gelungen war bis zum Literaturpapst vorzudringen, lauschten seinen schauerlich-schrecklichen Ausführungen über die Ankunft und das Wüten der deutschen Wehrmacht in Warschau. In eindringlichen Worten schilderte er auch, wie er selbst von Soldaten drangsaliert und erniedrigt wurde und fügte hinzu:

"Ich glaubte damals, er könne mich gar nicht beleidigen, er könne mich nur verprügeln oder verletzen oder auch töten. Ich meinte, es sei richtiger, diesen grausamen Zirkus schweigend, brüllend und singend mitzumachen als den Tod zu riskieren. Ungewöhnlich war das alles nicht, es spielte sich beinahe täglich ab, in beinahe jeder polnischen Stadt."

Die angekündigte Diskussion mit dem Autor, die im Anschluss an die Lesung geplant war, fand jedoch nicht statt. Hatte der für seine Scharfzüngigkeit bekannte Kritiker doch schon zuvor verkündet, nur drei Fragen zuzulassen und nur, wenn diese von ihm für gut befunden würden, noch eine vierte zu ertragen. Erleichtert mag er gewesen sein, dass es die Anwesenden freiwillig bei den zugestandenen drei Fragen beließen.

Autor: Olaf Barth
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