Rundtour zu Corona-Zeit: Jakub Čech umwandert Tschechien in 50 Tagen
Was macht die Corona-Pandemie mit uns Menschen? Verändert Sie uns etwa? Diese und ähnliche Fragen werden derzeit oft gestellt, und sie lassen sich nicht eindeutig beantworten. Was man aber sagen kann: Menschen greifen die völlig veränderte Lage auf und tun Dinge, die sie sonst wohl eher nicht getan hätten, oder zu einem späteren Zeitpunkt. Ein solcher Mensch ist der passionierte Fernwanderer Jakub Čech. Kurz vor Ausbruch des Coronavirus plante er noch einen langen Trail in den Vereinigten Staaten, doch verreisen konnte man nicht mehr. Also disponierte er um und umkreiste in genau 50 Tagen die Tschechische Republik entlang ihrer Staatsgrenze.
Von Berufs wegen ist Jakub Čech Toningenieur beim Film und ebenso Blogger des Reisejournals „Jakubův cestovní deník“. Deswegen war er schon öfter beim Tschechischen Rundfunk zu Gast. Im Sommer dieses Jahres wollte er eigentlich über den 3500 Kilometer langen Fernwanderweg in den Appalachen (Appalachian Trail) im Osten der Vereinigten Staaten berichten. Zuvor ist er bereits zwei weitere solche Wege in den USA gegangen, damit hätte Čech das Tripple (zusammen mit dem Pacific Crest Trail im Jahr 2016 und dem Continental Divide Trail im Jahr 2018) geschafft. Doch Corona machte diesen ehrgeizigen Plänen einen Strich durch die Rechnung. Čech war zwar im Nachhinein erleichtert, dass er angesichts der Ausmaße der Pandemie in den USA zu Hause bei seiner Familie war, doch die längere Isolation von der Außenwelt ging ihm allmählich auf die Nerven:
„Mir begann es immer öfter in den Füßen zu jucken, ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Dann habe ich in einem Forum im Netz entdeckt, wie Leute, die eigentlich den Pacific Crest Trail absolvieren wollten, die Idee hatten, eine lange Rundtour bei uns in Tschechien zu machen. Und zwar von der Schneekoppe einmal um das Land herum zurück zur Schneekoppe. Ich fand das eine ausgezeichnete Idee und die richtige Zeit dafür, auch wenn ich mich unter normalen Bedingungen nicht dazu entschlossen hätte. So aber war ich binnen 14 Tagen startklar, bin zur Schneekoppe aufgebrochen und muss sagen: Es war die richtige Entscheidung.“
Warum aber musste der Start- und Zielort der Fernwanderung gerade die Schneekoppe im Riesengebirge sein?
Schneekoppe ist Start- und Zielort mit Symbolcharakter
„Das ist symbolisch: Die Schneekoppe ist einfach der höchste Berg Tschechiens. Und auch von der Dramaturgie her gefiel mir das: Man beginnt mit dem Riesen- und dem Isergebirge, dann folgen das Erzgebirge und der Böhmerwald, die relativ leicht zu meistern sind. Danach kommt das flache Südmähren, und dann beginnt die große Parade der reizvollen Gebirge: die Weißen Karpaten, die Beskiden und das Altvatergebirge. Und zum Ende hin steigert es sich noch einmal.“
Die Gesamtstrecke für eine komplette Umrundung der Tschechischen Republik entlang der Grenze ist zirka 2300 Kilometer lang. Čech aber wollte nicht durch jedes Gestrüpp und von Grenzstein zu Grenzstein laufen, deswegen hat er hie und da einen Abschnitt abgekürzt. Die Gesamtlänge seiner Wanderung betrug letztlich 2163 Kilometer. Und er bewältigte diesen Weg in exakt 50 Tagen. Doch wie versorgt man sich eigentlich für eine solch lange Zeit mit Nahrung, wenn der Rucksack nicht zu schwer sein soll und die Gaststätten zu Beginn der Tour wegen Corona allesamt noch geschlossen waren?
„Ich bin losmarschiert mit der Vorstellung, dass ich mich selbst verpflege. Ich habe also damit gerechnet, dass keine Gaststuben geöffnet haben. Die ersten 14 Tage habe ich also meinen ganzen Proviant mitgeschleppt und mir täglich mit dem Campingkocher etwas zubereitet. Als dann die ersten Wirtshäuser wieder aufgemacht haben, war es natürlich angenehmer. Dann konnte ich jemanden anderen kochen lassen und musste mich nicht ständig von Tütensuppen ernähren. Am Ende der Tour habe ich deshalb nicht mehr so viel Essen mitgeschleppt, und mein Rucksack war leichter.“
Als Jakub Čech seine Fernwanderung im Riesengebirge begann, erlebte er gleich eine Überraschung:
„Als ich am Vorabend meiner Wanderung in Pec pod Sněžkou eintraf, bin ich noch bis zur Bergbaude Růžohorky emporgestiegen, um dort zu übernachten. Ich wollte ganz früh aufstehen und mit den ersten Sonnenstrahlen loswandern. Ich glaubte, dass das sehr romantisch sein würde und ich dort niemanden träfe. Doch schnell stellte sich heraus, dass viele Leute denselben Einfall hatten. Auf der Hütte waren noch 20 weitere Frühaufsteher, trotzdem war es schön.“
Wie Čech im Rundfunkgespräch schildert, beginnt er seine Touren immer schon sehr früh, weil es am Vormittag meistens nicht so heiß ist wie am Nachmittag und man so besser vorwärtskommt. Zudem gehe er ohne Frühstück los, um vor dem ersten Bissen schon etwas geleistet zu haben. Die erste Mahlzeit an einem schönen Ort – im Idealfall direkt bei Sonnenaufgang – schmecke besonders gut, behauptet er. An den ersten Tagen kam der 47-Jährige dann auch gut voran:
„Toll für mich war, dass sich in Tschechien nahezu alle noch verkrochen hatten, aus Furcht vor dem Coronavirus. Daher bin ich kaum anderen Wanderern begegnet. Als ich dann entlang der Grenze zu Deutschland gewandert bin, war es lustig, dass auf deutscher Seite immer eine Schar von Ausflüglern zu sehen war, ich aber auf der tschechischen Seite völlig allein blieb. Hinzukam, dass es häufig regnete. Viele Menschen haben das nicht gern. Mich amüsiert es eher, doch der Regen darf nicht zu lange dauern. Am amüsantesten für mich aber war, dass ich die ganze Böhmische Schweiz quasi für mich alleine hatte.“
Bewährt als Regenschutz: Regen-Rock und Hängematte
Für Regen-Etappen war Čech zudem bestens gerüstet – mit einem neuen Regen-Rock (Rain Kilt):
„Dieser Rock war für mich die Entdeckung der Tour. Ein phantastisches Kleidungsstück, das man sich ganz schnell anlegt, gerade wenn der Regen kommt, und das man ebenso rasch wieder abstreift. Das ist viel einfacher, als sich in eine Hose zu zwängen, vor allem wenn man Schuhe anhat. Hosen sind manchmal wirklich lästig, aber unter dem Rock kommt genügend Luft an die Beine, man hat ihn ratzfatz an- oder ausgezogen. Ich kann ihn nur jedem empfehlen.“
Und auch bei der Nachtruhe wusste sich Čech sehr gut vor der Nässe zu schützen:
„Ich denke, dass der Gebrauch einer Hängematte die beste Entscheidung war, die ich getroffen habe. Und das aus mehreren Gründen. Der Hauptgrund ist der, dass dir eine Hängematte den besten Schutz bei regnerischem Wetter bietet. Wenn es drei Tage lang regnet, ist der Boden oft nicht mehr in der Lage, die Feuchtigkeit aufzunehmen. Überall sind Pfützen, alles ist feucht, und dann einen einigermaßen trockenen Platz zu finden ist schwierig. Zudem ist die tschechische Natur bis auf einige Landstriche in Südmähren so stark bewaldet, dass man immer zwei Bäume findet, die nur ein paar Schritte voneinander entfernt sind, um dort die Hängematte aufzuspannen. Man muss auch keinen ebenen Platz suchen, sondern kann ebenso an einem sanft abfallenden Hang übernachten.“
Nachdenklich gemacht: Verlassene Sudetengebiete und Gedenkstätte Hrabyně
Bei seiner Fernwanderung bekam Čech aber auch allerhand zu sehen. Vor allem wurde ihm bewusst, dass große Teile seiner Tour durch die ehemaligen Sudeten führten – also die Landesteile in Böhmen und Mähren, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vorwiegend deutschsprachig besiedelt waren:
„Für mich war dies im Grunde genommen das größte Erlebnis meines gesamten Weges: Man durchquert ein Territorium mit einer bewegten Geschichte. Man sieht zum Beispiel Bunker, die vor dem Krieg entstanden sind. Wenn man den ersten und auch zweiten sieht, ist man begeistert und schaut genauer hin. Wenn man aber diese Tonnen von Beton zwei Monate lang zu Gesicht bekommt, dann fängt man an nachzudenken. Und man wird traurig, wenn man sich die zunichtegemachte Hoffnung vergegenwärtig, die damit verknüpft war. Ein weiteres Kapitel sind die entvölkerten Ortschaften beziehungsweise die Plätze, an denen früher große Dörfer waren mit mehreren Gasthöfen und einer Schule. Jetzt ist dort nichts mehr davon, und man beginnt über das Schicksal dieser Menschen nachzudenken.“
Doch damit nicht genug. Auf seiner Tour traf Čech ebenso auf Mahnmale für Menschen, die im Grenzgebiet getötet wurden, weil sie den Weg in die Freiheit suchten. Ebenso wurde er durch Gedenksteine an die Taten der Partisanenbewegung erinnert. Ein Mahnmal aber hat ihn besonders bewegt:
„Für mich war der Höhepunkt das Denkmal zum ‚Kampf für die Befreiung‘ im nordmährischen Hrabyně bei Opava. Die Ausstellung dazu ist an sich schon sehr bewegend. Als ich mir dann aber den Teil über den tschechoslowakischen Legionär Heliodor Píka angeschaut habe, hatte ich die ganze Zeit Tränen in den Augen. Das hat mich zornig gemacht auf das damalige kommunistische Regime. Meine Eltern und teilweise auch ich habe in dieser Zeit gelebt. Aber viele Leute hierzulande tun so, als wäre damals nichts passiert und wir hätten in Freiheit und Zufriedenheit gelebt. Das hat mich schrecklich deprimiert.“
Doch natürlich hielt die lange Wanderung auch mehrere sehr schöne Momente parat. Einer davon hat mit dem nordwestlichsten Zipfel des Landes zu tun – der Gegend um die Grenzstadt Aš / Asch:
„Zu dieser Region fällt vielen Leuten kaum etwas ein, doch auf einmal stellst du fest, dass es hier etliche Wälder gibt, die eher unberührt sind. Das liegt daran, dass diese Gegend bis zur Wende vor allem militärisches Gebiet war. Dasselbe gilt zwar auch für den Böhmerwald, doch er hat in den zurückliegenden 30 Jahren eine regelrechte Touristenschwemme erlebt. Zudem sind dort viele Wege asphaltiert worden zugunsten der Radfahrer, und das ärgert mich. Wenn ich durch die Natur wandere, aber auf asphaltierten Wegen gehe, macht mir das keinen Spaß. In der Region um Asch ist das ganz anders.“
Und auch was die Naturschönheiten des Landes an sich betrifft, ist der Abenteurer auf einen kleinen Geheimtipp gestoßen:
„Was ich erst unlängst für mich entdeckt habe und wohin ich immer wieder gerne fahre, das sind die Beskiden. Das gilt auch für die Weißen Karpaten, sie sind phantastisch. Diesmal konnte ich sie aber nicht sonderlich genießen, weil es dort ständig geregnet hat und neblig war. Für mich persönlich aber war das Reichensteiner Gebirge (Rychlebské hory) die Entdeckung dieser Tour. Das kannte ich bisher nicht. Den Gebirgskamm kann man in lockerem Tempo in drei Tagen überqueren. Es war phantastisch.“
Neratov ist neuer Ort der Hoffnung
Kurz vor dem Abschluss seiner Tour erlebte Jakub Čech dann noch einen ganz speziellen Höhepunkt. Es war ein Ort, an dem alle seine düsteren Gedanken verflogen:
„Als ich nach Neratov im Adlergebirge kam, war vieles anders als im sonstigen Sudentengebiet. Es ist ein Dorf, das noch kurz nach der Wende wie leergefegt war. Dort aber ist es dem Pfarrer Josef Suchar und den Menschen um ihn herum gelungen, den Ort wieder zu besiedeln und zu beleben. Das begann mit der Instandsetzung der dortigen Kirche und hat sich fortgesetzt mit der Entstehung einer gut besuchten Gaststätte, eines Cafés und einer eigenen Brauerei. Vor allem aber wurde dort eine Gemeinschaft aufgebaut, in der auch Menschen mit Behinderung ihren Platz haben. Dieses pulsierende Leben ist dabei nicht nur auf das Dorf beschränkt, sondern strahlt auch in die Umgebung aus. In Neratov habe ich schließlich aufgeatmet und mir gesagt: ‚Jawohl, hier gibt es eine gewisse Hoffnung‘. Trotz allen Unrechts und der Gräuel, die es hier in der Vergangenheit gegeben hat, kann man weiterschreiten und allem einen neuen Sinn geben.“
Jakub Čech hätte noch vieles mehr zu berichten, doch dafür reicht unsere Sendezeit leider nicht. Wer aber mehr erfahren will und des Tschechischen mächtig ist, der kann alles im Tagebuch des Wanderers und Bloggers nachlesen. Die Internetadresse lautet: jakubuvcestovnidenik.cz.