Schnell verglühter Stern am Prager Literaturhimmel: Ossip Schubin
Kafka, Rilke, Werfel - diese Namen stehen heute für die Prager deutsche Literatur. Nahezu völlig vergessen ist, dass sich bereits eine Generation zuvor eine junge Pragerin erfolgreich in den gehobenen Zirkeln der deutschen Literatur bewegte: Lola Kirschner alias Ossip Schubin (1854-1934).
"Es war nach einem Konzert von Anton Rubinstein und ich war gerade 15 Jahre alt. Die herrliche Musik hatte mich aufgeregt, in meinen Nerven schrieen alle Melodien durcheinander. Da plötzlich legte sich der Aufruhr - die musikalischen Reminiszenzen verschwammen alle in einem langsam verklingenden Mollakkord und aus ihm heraus schwebten ein paar menschliche Figuren zu mir. Ich sah sie deutlich, ich hörte sie sprechen, ein kleines Stück fremden Lebens rollte sich vor mir auf. Ich schlich mich in ein entlegenes Zimmer und dann schrieb ich, bis ich ganz steife Finger hatte vor Kälte. Es war nämlich Februar und das Zimmer ungeheizt. Da entdeckte man mich; ich wurde gescholten wegen der Kälte, der ich mich ausgesetzt, und gezwungen, heißen Tee zu trinken, aber - ´Niklas Z.´ war fertig."
So beschreibt die Prager Schriftstellerin Ossip Schubin die Entstehungsgeschichte ihrer ersten Novelle. Die Erinnerung erscheint 1894 in einer Sammlung mit autobiographischen Skizzen berühmter Autoren der Zeit, herausgegeben von dem angesehenen Publizisten Karl Emil Franzos. Schubin steht dort in einer Reihe mit Theodor Fontane, Marie von Ebner-Eschenbach und dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Paul Heyse. Kein Zweifel: Ossip Schubin, zu diesem Zeitpunkt erst 40 Jahre alt, durfte sich zu den etablierten Autoren zählen. Der Ruhm hielt allerdings nicht lange - und verging so gründlich, dass es heute schon Schwierigkeiten macht, mehr als ihre Lebensdaten in Erfahrung zu bringen.
Aloisia ("Lola") Kirschner, so der bürgerliche Name von Ossip Schubin, wurde am 10. 6. 1854 in Lochkov bei Prag als mittleres von drei Kindern einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie geboren. Der Vater, ein erfolgreicher Anwalt, hatte noch im Revolutionsjahr 1848, das in Österreich auch die Aufhebung des Ghettozwangs für Juden brachte, das dortige Gut als Familiensitz gekauft. Die beiden Töchter Marie und Lola zeigten starke künstlerische Begabung. Die ältere Marie etablierte sich als Malerin, vor allem aber als Glasgestalterin. Ihre Arbeiten gelten heute als einer der Höhepunkte der Jugendstil-Glaskunst in Europa, erläutert Helena Brožková vom Kunstgewerblichen Museum in Prag:
"Wenn wir uns die Werke von Marie Kirschner anschauen, dann muss man sagen, dass sie ihre Arbeit wirklich verstanden hat, dass sie ein sehr feines Gespür für die Schönheit und den Charakter der Glaskunst hatte. Ihre Werke sind sehr eigenständig und heben sich deutlich von denen anderer Künstler ihrer Zeit ab. Marie Kirschner war eine sehr gute Gestalterin, eine sehr lebendige und fähige Dame."
Letzteres gilt wohl für beide Geschwister, die einander ihr Leben lang verbunden bleiben. Ungewöhnlich für Frauen in ihrer Zeit erhalten beide eine fundierte Bildung. Die Eltern fördern ihre Talente und ermöglichen ausgedehnte Reisen.
"Mit ihrer Schwester Lola hat Marie ganz Europa bereist - sie waren unter anderem in Berlin, Paris und Rom, wo sie die Tochter von Bettina von Arnim kennen gelernt haben, die sie dann später in die Berliner Gesellschaft eingeführt hat. Das waren emanzipierte Frauen um 1900."
In Paris hatten die Schwestern unter anderem auch Iwan Turgenjew kennen gelernt. Aus einem seiner Romane entlehnt sich Lola ihr literarisches Pseudonym: Ossip Schubin. Nach einigen weniger beachteten Beiträgen für Zeitschriften veröffentlicht sie unter diesem Namen 1882 im Alter von 28 Jahren ihren ersten großen Roman - "Ehre". Und erhält eine enthusiastische Besprechung des einflussreichen Kritikers Julius Rodenberg, der die junge Autorin auf schmeichelhafte Weise verkennt:
"Wir glauben nicht, dass Ossip Schubin, wer er auch sein mag, ein ganz junger Mensch ist. Die Reife seines Urteils, der Umfang seines Wissens und seiner Bildung, seine Menschenkenntnis und ein leichter Zug von Ironie lassen auf den vollendeten Weltmann schließen, der viel gesehen und viel beobachtet hat."
Fast über Nacht ist aus Aloisia Kirschner die anerkannte Schriftstellerin Ossip Schubin geworden. Weitere Romane und Novellensammlungen folgen in kurzen Abständen. Fast alle ihrer Bücher sind im gleichen Milieu angesiedelt, erläutert die Salzburger Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl, eine der wenigen, die sich in den letzten Jahrzehnten noch mit Schubin befasst haben.
"Die Romane spielen in einer imaginären Adelswelt, die sich in den europäischen Luxuszentren bewegt - in den Badeorten, in Paris und Rom. Die Handlungen ihrer Romane bewegen sich rund um Konfliktfälle in dieser imaginären Welt. Es geht um Erbfälle, um Legitimität, um uneheliche Kinder. Das bedeutet, dass Sie allen realen politischen und sozialen Gegensätzen ihrer Zeit zunächst ausgewichen ist, sodass diese Romansphären als Wunschträume und Fluchtorte sehr deutlich werden."
Aus jüdischer Familie stammend, übertreibt Schubin auf der Suche nach einer gesicherten Zugehörigkeit in ihren Romanen die Anpassung an das österreichische Bürgertum bis zu feudalen Verhaltensweisen - und das während sich die überkommene Welt des Adels bereits sichtbar im Niedergang befindet. In einer Zeit des Wandels setzen ihre Romane damit schnell Patina an, anders etwa als das Werk ihrer Zeitgenossin Marie von Ebner-Eschenbach, das zu großen Teilen im gleichen Milieu spielt."Bei Ebner-Eschenbach gibt es tatsächlich dieselbe Adelswelt, aber die wird ständig mit den sozialen Fragen der ausgehenden österreichisch-ungarischen Monarchie konfrontiert. Und weil Schubin das nicht macht und diese sozialen Konflikte ausblendet, ist es so, dass ihr Werk zur Jahrhundertwende hin zunehmend als irrelevant empfunden wird und sozusagen absintert in die Sphären der Unterhaltungsliteratur."
Ossip Schubin stirbt am 10.2.1934 im Alter von 79 Jahren auf Schloss Košátky in Böhmen. Sie wird im Familiengrab auf dem Prager Friedhof Malvazinky beigesetzt, neben ihren Eltern und der drei Jahre zuvor verstorbenen Schwester Marie. Ihr umfangreiches Werk findet kaum noch Nachhall, und der Nationalsozialismus tut ein Übriges, die Spuren der jüdischstämmigen Autorin zu verwischen. Einen Aufsatz über Ossip Schubin hat die Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl unter das Motto einer ihrer Novellen gestellt: "Verkannt und verfehlt". Ist das die Bilanz ihrer literarischen Tätigkeit?"Ich fürchte ja, obwohl es sich dabei um ein Paradox handelt, denn Ossip Schubin war eine Erfolgsschriftstellerin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit einer großen Produktion - sie hat rund 45 Romane bis zum Ende ihres Lebens geschrieben. Auf der anderen Seite gibt es drei Rezeptionshindernisse, schon während ihres Lebens, die sich gegenseitig verstärkt haben und die dann nach ihrem Tod ausschlaggebend geworden sind: Sie war eine deutschsprachige Schriftstellerin in Böhmen, sie war eine Jüdin und sie war eine Frau."
Ihr Name, unter dem sich einst lange Einträge im Konversationslexikon fanden, ist bis zur Unkenntlichkeit verblasst, ihre Bücher sind vergessen. Wenn man keine Literatur für die Gegenwart erwartet, dann kann es allerdings schon spannend sein, einmal in den hinteren Regalen der Antiquariate und Bibliotheken nach der verschollenen Pragerin Ausschau zu halten, meint auch die Germanistin Konstanze Fliedl.
"Ich halte die Befassung mit ihren Texten schon für sehr interessant, weil sie sehr typisch für eine bestimmte Schreibweise und bestimmte Produktionsbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind. Was sie gemacht hat, kann erklärt werden als die Reaktion einer sehr begabten Frau, die unter den gegebenen Bedingungen aber nur zur Beschreibung bestimmter Sphären gekommen ist."
Diese Beschreibung allerdings gelingt ihr durchaus unterhaltsam. Genau beobachtend und manchmal spitz pointiert fühlt sie ihrer Umgebung die Atmosphäre und Stimmung ab: die Langeweile der Bädergesellschaft, die Fünfuhrtees blasierter Adeliger, die Traurigkeit böhmischer Landsitze im Herbst. Wer mag, der kann sich bei Ossip Schubin zurücklesen in die Zeit, als noch Dragoner über die nebligen Felder ritten...
"Am Allerseelentag verließ er das Schloss, ritt fort an der Spitze seines Zuges über die kotdurchweichten Straßen. Es war ein kalter, neblichter Morgen, durch die scharfe und graue Luft wehten die roten und gelben Herbstblätter, und schwarze Krähenzüge flatterten krächzend über die frisch geackerten Felder. Am östlichen Horizont arbeitet sich eine müde, schwache Sonne aus den kalten Windwolken heraus. Er sagte sich, dass es seine Lebenssonne war, die da am Horizont aufstrebte, - eine Sonne, die weder Glanz noch Wärme gab, nur ein wenig Licht - "
(aus dem Roman "Vollmondzauber", 1898)
Dieser Beitrag wurde am 19. Dezember 2004 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.