Seiters und Schröder unisono: Jubelschrei der Botschaftsflüchtlinge war emotionaler Höhepunkt im Leben
Wer von den heute 40-Jährigen und Älteren erinnert sich nicht mehr an die aufregende politische Wendezeit im Jahr 1989 in Mitteleuropa? Die in der damaligen DDR lebenden Bürger stimmten im Sommer jenes Jahres mit den Füßen gegen ihr sozialistisches Regime ab, indem sie über die ungarisch-österreichische Grenze in den Westen türmten oder aber in die bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag flüchteten. Besonders die Botschaft in der Moldaustadt war rappelvoll, und der Moment, als den ersten 5000 Flüchtlingen ihre Ausreise in die Bundesrepublik verkündet wurde, ging in die Geschichte ein. Es war der 30. September 1989, als sie es vom Balkon der Botschaft, dem Prager Palais Lobkowicz, durch den ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erfuhren. Das ist mittlerweile fast 25 Jahre her und damit auch schon ein „Kapitel aus der tschechischen Geschichte“.
„Spätestens nach der totalen Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze am 10. September – das ist schon ein einschneidender Punkt in der Entwicklung gewesen – geriet die DDR verstärkt unter internationalen und nationalen Druck. Die emotionalen Bilder von den Botschaftsflüchtlingen in der Prager Botschaft gingen um die Welt und schädigten Tag für Tag das internationale Ansehen der DDR. Hinzu kam, dass am 6. und 7. Oktober aus Anlass der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR der Besuch von Michail Gorbatschow in Ostberlin angesagt war. Die Staatsführung konnte nicht wollen, dass diese Feierlichkeiten zum Geburtstag des Landes durch die ständigen und wie gesagt für die DDR schädigenden Bildnachrichten aus Prag überlagert wurden. Es lag im elementaren Interesse der DDR, das Problem vorher zu lösen.“
Ende September hatte sich die DDR-Staatsführung dann zu einer Lösung durchgerungen, die ihr Ständiger Vertreter in Bonn, Horst Neubauer, der bundesdeutschen Regierung zu übermitteln hatte:„Am 29. September abends erhielt ich dann einen Anruf von Horst Neubauer mit der Bitte, er müsse mich dringend sprechen. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, den 30. September, um 10 Uhr in meinem Büro im Kanzleramt. Ich unterrichtete den Bundeskanzler, der mir sagte, ich möge den Bundesaußenminister zu dem Gespräch hinzuziehen. Nach den üblichen Angriffen des DDR-Vertreters, wir würden internationales Recht brechen, erklärte er dann schließlich, die DDR habe sich entschlossen in einem einmaligen humanitären Akt die Ausreise der 5000 Botschaftsflüchtlinge zu genehmigen. Wir wissen aber, dass es nicht bei diesem einmaligen Akt blieb.“
Der wankelmütige DDR-Politapparat um Erich Honecker hatte seine Zusage zur Ausreise der Flüchtlinge in die Bundesrepublik zwischenzeitlich zurückgenommen, schildert Seiters die damals diffizile Situation am 30. September. Letztlich sei dies aber nicht entscheidend gewesen, weil Genscher und er nach Prag gekommen waren, um den Menschen die Sicherheit zu geben, dass sie die Botschaft ohne Gefahr für ihre Freiheit verlassen konnten. Das sei dann auch unter dem Jubel der Botschaftsflüchtlinge geschehen, so Seiters:
„Die Szene auf dem Balkon der Prager Botschaft zählt zu den emotionalsten Momenten meines politischen Lebens. Der Blick in diesen nachtdunklen und verschlammten Garten, der Blick auf die Botschaftsflüchtlinge und die Zelte des Deutschen Roten Kreuzes, der Jubel bei der Verkündung der Ausreise, die übergroße Freude, Dankbarkeit und Erleichterung bei den Gesprächen anschließend im Garten – das werde ich nie vergessen.“So wie Ex-Politiker Rudolf Seiters, hat auch Waltraud Schröder, die damalige Einsatzleiterin des Deutschen Roten Kreuzes an der Prager Botschaft, noch ganz beseelte Erinnerungen an den 30. September 1989:
„Mein Einsatz hier in Prag begann mit der Ankündigung vom Balkon der Botschaft 'Ihr könnt raus!' Und dieser Schrei, und diese Freude der Menschen, die zum Teil über Monate hier Obdach und Unterstützung gefunden haben, der hallt mir heute noch in den Ohren.“
Nach dem Jubelschrei der Botschaftsflüchtlinge galt es damals, auf viele Menschen beruhigend einzuwirken und ihnen zu versichern, dass ihre Ausreise völlig sicher sei. Zudem musste der Transfer zu den Bussen, die die Menge zu den auf Prager Bahnhöfen bereitstehenden Zügen brachten, flankiert werden. Am darauffolgenden 1. Oktober war dann das Aufräumen in der Botschaft angesagt, erzählt die DRK-Einsatzleiterin:
„Dieser Aufbruch, der plötzlich in wenigen Stunden geschah und geschehen musste, führte dazu, dass alles, was man hatte, liegenblieb. Es sah aus wie nach einem Sturm, der durch das Haus gegangen war. Und nun musste dafür gesorgt werden, dass alles wieder in Ordnung gebracht wird.“
Doch diese Arbeit habe man nur einige Stunden ungestört vollziehen können, denn schon bald ergab sich ein neues Bild, so Waltraud Schröder.
„Um 11 Uhr, als wir gefrühstückt hatten, waren schon wieder 2000 Menschen in der Botschaft.“Danach füllte sich die Botschaft erneut rasend schnell, binnen weniger Stunden hatten sich knapp 7000 neue Flüchtlinge hier eingefunden, weitere 3000 warteten draußen, berichtet Waltraud Schröder. Und so begann auch ihr großer Einsatz in Prag, zu dem sie während eines Besuchs der Botschaft im Juni dieses Jahres auch die Fragen deutscher Journalisten beantwortete. Das Gespräch mit ihr führte der Prager ARD-Hörfunk-Korrespondent Stefan Heinlein:
Was waren die Hauptprobleme, mit denen Sie damals zu kämpfen hatten?„Das größte Problem war die Unterbringung, die Enge, die im Areal der Botschaft herrschte. Ein zweites großes Problem war es, die Kinder zu beschäftigen. Wir hatten Schwesternhelferinnen dabei, die den Auftrag bekamen, ihre Körbchen mit Spielzeug und Süßigkeiten zu füllen und auf die Kinder zuzugehen. Im Hinterkopf habe ich immer gedacht: Es ist ja klar, dass die Eltern ihre Kinder nicht beruhigen können, denn sie haben es nie richtig gelernt. Es waren viele junge Eltern, und in der DDR war es ja damals so: Die Kinder kamen sofort in die Krippe, die Eltern waren beide berufstätig und abends gingen die Kinder früh zu Bett. Und am Wochenende musste man einkaufen gehen, da waren die Eltern ebenso eingespannt. Die Fähigkeit, Kinder zu beruhigen, die haben wir ihnen hier in Prag erst einmal etwas beigebracht. Nehmt die Kinder in den Arm, schwiegt sie ein bisschen, singt ihnen ein stilles Liedchen vor – all das gehörte dazu. Die Kinder zu beruhigen, gehörte zweifellos zu den schwierigsten Aufgaben, die wir hatten. Zudem mussten wir viel an Säuglingsnahrung herbeischaffen. Die haben wir im Keller der Botschaft zubereitet, damit die Säuglinge möglichst auch die Nahrung bekamen, die sie schon früher bekommen hatten.“
Man spricht von drei-, vier- bis fünftausend Menschen, die sich damals in der Botschaft aufhielten. Wo haben sie geschlafen? Wo haben sie gegessen?„Nun, zum Beispiel die Treppe hier hinauf zum ersten Stock war ständig voll besetzt, und das bis obenhin. Auf einer Stufe saßen jeweils zehn Personen und mehr, wenn der eine oder andere noch auf den Schoß genommen wurde. In den Räumen standen die hohen Betten, in denen wir dann später die Kinder immer mehr zusammengeschoben haben. Von wegen zwei Kinder ein Bett, gibt’s nicht – vier passen auch rein, zwei am Fußende und zwei am Kopfende, und in der Mitte muss man dann irgendwo die Beine sortieren. In den Zelten wurde umschichtig geschlafen, wobei die Männer und die jüngeren Leute überwiegend draußen waren. Viele haben auf den Fensterbänken und den Heizkörpern gesessen. Draußen wurden zudem laufend Betten aufgestellt, damit man wenigstens sitzen konnte.“
Wie waren die hygienischen Bedingungen damals?„Also die hygienischen Bedingungen waren schlimm. Wir hatten einen Toilettenwagen, im Gebäude selbst gab es sechs Toiletten, eine davon hatten wir für das Personal abgestellt. Ein zweiter Toilettenwagen, der vor der Botschaft stand, konnte nicht hereingebracht werden, weil sonst das gesamte Abwassersystem der Botschaft zusammengebrochen wäre. Dafür gab es viele Büsche und Bäume, wo die Notdurft verrichtet wurde. Aber es blieb einem ja auch nichts anderes übrig. Regelmäßiges Waschen war auch nicht drin, höchstens wenn man einmal auf die Toilette kam oder das Geschirr abspülte, dann nahm man schnell mal auch eine Handvoll Wasser für das Gesicht. All das hat dazu beigetragen, dass die Luft schlecht wurde. Hinzu kam: Alles drängelte, alles schubste, und die kleinen Kinder waren immer dazwischen. Wir haben es daher so geregelt, dass wir eine Gruppe mit je sechs Einsatzkräften immer herausgenommen und zum Essen eingeladen haben. Es gab damals eine kleine Gaststätte bei der Botschaft. Zum einen sollten die Helfer frische Luft bekommen – selbst vor der Botschaft roch es schlimm wegen der tausenden weiteren Flüchtlinge, die dort ausharrten –, und zum anderen sollten sie auch einmal etwas anderes zu essen bekommen.“
Wie groß war die Angst vor Seuchen?„Diese Angst war riesig. Es muss ja nur einer anfangen Durchfall zu bekommen, und schon kann das weitergehen. Leute, bei denen wir einen Verdacht hatten, mussten in das sogenannte Visa-Haus, dort war die Krankenstation eingerichtet. Alle Menschen, denen irgendwie übel war, wurden dort gründlich untersucht, zum Glück aber stellte sich heraus, dass es meistens nichts Ernsthaftes war. Schlimmer waren die Halserkrankungen. Ziemlich oft hatten Flüchtlinge Schmerzen an ihren Stimmbändern. Die Angst vor dem Ausbruch einer Seuche aber hat uns ständig begleitet.“
War Ihnen damals im Jahr 1989 klar, dass Sie an einem historischen Ereignis, an einer historischen Entwicklung für die deutsche Geschichte mitwirken?„Das war mir natürlich bis zum Abend des 29. September noch nicht klar. Erst als der Anruf kam und ich für mich überlegte, kannst du das eigentlich, habe ich zunächst mit meinem Mann telefoniert, bis er mir sagte: ´Du schaffst das´ – das war der Anfang. Da ich zudem sechs Kollegen mit nach Prag bringen konnte, auf die ich mich absolut verlassen konnte, habe ich zu mir gesagt: ´Ich mach es´. Dieses Erlebnis, an etwas Großem mitgewirkt zu haben, das habe ich damals erst am 9. November, als die Mauer fiel, bei einem Essen in der Botschaft vollkommen begriffen. Als nämlich diese Nachricht kam, da habe ich zu den Anwesenden gesagt: ´Das ist solch ein historischer Tag, an dem sie alle daran mitgewirkt haben, indem sie den Menschen geholfen haben, die in die Freiheit wollten, den Weg so leicht wie möglich zu machen. Alle Helfer haben daraufhin einen Stadtführer bekommen mit der Unterschrift des Botschafters und von mir und natürlich mit dem historischen Datum. Ich denke, es war für alle, die hier waren, eine Zeit gewesen, die wir nie vergessen werden. Das wurde mir bei späteren Treffen auch immer wieder bestätigt, und ebenso, dass es eine Zeit gewesen ist, die uns in der weiteren Arbeit sehr geholfen hat. Auch ich muss sagen, dass sich meine Arbeit beim Deutschen Roten Kreuz dadurch verändert hat. Ich sehe heute Vieles ganz anders, auch wenn ich vorher schon einiges gelernt hatte wie Altenpflege, Rettungsdienst und all die Dinge, mit denen man Menschen helfen kann.“
Sind Sie persönlich stolz auf das, was Sie damals geleistet haben?
„Also stolz bin ich schon darauf. Aber ich glaube, meine Familie ist es noch mehr als ich. Ich muss indes auch sagen: Ohne den Rückhalt der Familie hätte man das alles auch nicht leisten können.“