September 1938

Im September 1938 stand Europa kurz vor dem Ausbruch eines Krieges: Gespannt blickte man auf Prag und Berlin. Würde die Sudetenkrise ohne Blutvergießen gelöst werden oder ein neuer Krieg beginnen? Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich nahmen die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen in der Tschechoslowakei zu. 1935 erhielt die nationalsozialistisch gesinnte Sudetendeutsche Partei in den Parlamentswahlen bereits 67% der deutschen Stimmen. Ihr Programm war einfach: mehr Rechte für die deutsche Minderheit. 1938 wandelte sich diese Forderung in den offenen Wunsch nach Anschluss an das Deutsche Reich. Anfang September 1938 forderte Hitler diesen in seiner Rede auf dem Reichsparteitag in Nürnberg. Damit begann das Kräftemessen zwischen Hitler und den westlichen Alliierten, das am 30. September mit einem Sieg Hitlers endete. Jene Ereignisse des Herbsts 1938 erlebte Josef Skrapek als 10jähriger tschechischer Junge in einem überwiegend deutschen Städtchen. Seine Erlebnisse und Überlegungen hat der heute 75jährige in seinem Buch "Vcerejsi strach - Die gestrige Angst" zusammengefasst. Auch in unserer Sendung kommt Josef Skrapek zu Wort.

Adolf Hitler
Viele Dörfer und Städte im böhmischen und mährischen Grenzgebiet waren bis 1918 überwiegend von Deutschen bewohnt. Dies änderte sich etwas nach dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung der Tschechoslowakei. Tschechische Beamte, Polizisten, Briefträger, Eisenbahnangestellte kamen in diese Gegenden. Josef Skrapek wurde 1928 im westböhmischen Valc, Waltsch geboren, einem Städtchen mit rund 1.000 Einwohnern, von denen die meisten Deutsche waren.

" Nach dem Krieg kamen nach Waltsch tschechische Beamte, tschechische Gendarmen und auch meine Tante war tschechische Postmeisterin und hat meinen Vater dort hingenommen als tschechischen Briefträger. Aber es waren dort auch drei deutsche Briefträger. Nur sollten die tschechischen Briefträger deutsch lernen und die deutschen sollten tschechisch lernen, beide haben nicht viel gelernt."

Wie in vielen Orten im Grenzgebiet gab es auch in Waltsch eine tschechische Minderheitenschule - insbesondere für die Kinder der tschechischen Staatsangestellten:

"Also der Kindergarten war natürlich nur ein deutscher Kindergarten, aber dann bin ich in eine tschechische Minderheitenschule gegangen, dort war eine verschiedene Anzahl von Kindern, zwischen 15-25 Kinder. Der Lehrer musste sehr gut deutsch können, da die meisten Kinder nicht tschechisch gesprochen haben. Sehr viele Kinder von deutschen Familien waren auch dort. Und das war deswegen, weil die Eltern geglaubt haben, wenn die Kinder eine tschechische Schule haben, dann können sie auch beim Staat eine Stellung haben, als Briefträger oder bei der Eisenbahn oder so etwas."

Bis weit in die 30er Jahre lebten Tschechen und Deutsche in den Grenzgebieten mit- und nebeneinander. Während der Wirtschaftskrise und nach dem Machtantritt Hitlers wuchsen die Spannungen jedoch:

"Im Privatleben hat man das nicht gespürt, die Leute waren angenehm. Aber man hat gesehen, bei Versammlungen und Kundgebungen, war die Atmosphäre etwas anders. In Waltsch waren Gemeindewahlen. Die tschechische Kandidatenliste hat 29 Stimmen bekommen. Das bedeutet, dass aber auch Deutsche mussten für die tschechische Kandidatenliste stimmen, das waren vielleicht 2,3 Sozialdemokraten oder Kommunisten, oder die waltscher Juden haben wahrscheinlich auch für diese Liste gestimmt. Denn 29 tschechische Wähler gab es in Waltsch nicht."

Jene Gemeindewahlen fanden Ende Mai 1938 statt, damals erhielt die Sudetendeutsche Partei in den überwiegend deutschen Gebieten bis zu 90% der Stimmen.

Edvard Benes
Am 10. September 1938 wandte sich der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes an seine Mitbürger mit einer Ansprache, in der er zu Ruhe und Besonnenheit aufrief und eine für alle befriedigende Lösung der Nationalitätenprobleme in Aussicht stellte:

" Es entspricht der demokratischer Tradition dieser Republik, dass hierbei in jedem Verbande sowohl in der Staats- als auch in der Selbstverwaltung, jedem einzelnen gegenüber dem ganzen und der Minorität gegenüber der Majorität alle Rechte garantiert werden - die Freiheit der Überzeugung, die Nationalitätenrechte und die gerechten Vorbedingungen für eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Tätigkeit.

Wenn wir uns zu dieser Lösung in bewegter Stunde entschließen, in einer Stunde, da das gegenseitige Vertrauen einigermaßen erschüttert ist, so ist es klar, dass wir damit ein nicht geringes Opfer für die Erhaltung des allgemeinen Friedens bringen.

Ich wende mich so hin mit meinem Aufruf an alle Tschechoslowaken und alle Deutschen bei uns: niemals vorher war die Verantwortung jedes einzelnen von uns größer als jetzt. Seien Sie ruhig, seien Sie besonnen, bewahren Sie feste Nerven, gehen Sie ruhig Ihrer täglichen Berufsarbeit nach. Das vor allem braucht von Ihnen Ihr Vaterland und Ihre Heimat. Je weniger Sie von den Gepflogenheiten Ihres täglichen Lebens abweichen, desto größer wird der Beitrag sein, den Sie für die Erhaltung des Friedens leisten."

Zur selben Zeit forderte Hitler in seiner Rede vor dem Nürnberger Reichsparteitag offen den Anschluss der Sudetengebiete an das Deutsche Reich. Hitlers Rede wurde über Lautsprecher in allen Dörfern und Gemeinden des Sudetengebiets ausgestrahlt. Das Ergebnis waren Unruhen und Ausschreitungen, und ein missglückter Putschversuch der Sudetendeutschen Partei. Die Prager Regierung sah sich gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen. Am 16. September verbot sie die Sudetendeutsche Partei. Der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratischen Partei der Tschechoslowakei, Wenzel Jaksch, rief an jenem Tag Deutsche und Tschechen zu Besonnenheit auf:

"Das Gebot der Stunde ist Besinnung. Lassen wir uns nicht einreden, dass das eine Volk nur aus Teufeln besteht und das andere nur aus Engeln. Ob uns eine deutsche oder eine tschechische Mutter geboren hat, vergessen wir nicht, dass wir auch Menschen sind. Um jeden Toten weint eine Mutter. Lassen wir nicht zu, dass künstlich erzeugte Giftschwaden des Hasses das Land überfluten und die Sonne des Friedens verdunkeln."

Neville Chamberlain
Der britische Premierminister Neville Chamberlain fühlte sich in der angespannten Atmosphäre zwischen Prag und Berlin als Vermittler. Er reiste nach Deutschland, hörte Hitlers Forderung nach einer Abtretung des überwiegend von Deutschen besiedelten Grenzgebiets - und hatte im Grunde genommen nichts dagegen. Nach mehrtägigen Verhandlungen mit dem französischen Premier Edouard Daladier wurde die Prager Regierung am 19. September 1938 aufgefordert, das Grenzgebiet abzutreten, um einen Krieg zu verhindern. Zudem kündigten Paris und London an, dass die Tschechoslowakei in einem Kriegsfalle nicht mit ihrer Unterstützung rechnen könne.

Die Prager Regierung fühlte sich im Stich gelassen und trat aus Protest zurück. Im Land kam es zu Streiks und Unruhen. Hitler verlor die Geduld: bei seinen Verhandlungen mit Chamberlain im rheinischen Godesberg am 22. September verlangte er ultimativ, dass die geforderten Grenzgebiete bis zum 1.Oktober von den tschechoslowakischen Militärs zu räumen seien, ansonsten würde man einmarschieren. Die Tschechoslowakei erwiderte die Drohung mit einer allgemeinen Mobilmachung - es folgten 120 Stunden, die Europa in Atem hielten: würde zwischen der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich ein Krieg ausbrechen? In einer Rede am 26. September ließ Hitler keinen Zweifel an seiner Einstellung:

" Es steht vor uns das letzte Problem, dass gelöst werden muss und gelöst werden wird. Es ist die letzte territoriale Forderung, die ich in Europa zu stellen habe, aber es ist die Forderung, von der ich nicht abgehe."

Am Dienstag, den 27. September 1938 schien ein Krieg unvermeidbar: die Tschechoslowakei und Frankreich hatten mobilisiert, die britische Flotte und Luftwaffe befand sich in Alarmbereitschaft, Belgien und die Niederlande bereiteten sich auf den Krieg vor. Die USA begannen, ihre Bürger mit Passagierdampfern aus Europa zu evakuieren. In diesem Moment ergriff der Brite Chamberlain zum letzten Mal die Initiative: eine internationale Konferenz sollte die Krise beilegen. Hitler stimmte zu, unter einer Bedingung: die Prager Regierung dürfe nicht teilnehmen. Und so trafen sich am 29. September Hitler, der italienische Duce Mussolini, der Franzose Daladier und Chamberlain in München, um über das Schicksal der Tschechoslowakei zu entscheiden. Doch dazu mehr im nächsten Geschichtskapitel in zwei Wochen.