Tschechen, Juden, Nazi-Gegner: Prag erinnert an die Massenflucht aus den Grenzgebieten 1938

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Hundertausende Menschen mussten im Jahr 1938 die tschechoslowakischen Grenzgebiete verlassen. Es waren Tschechen, Juden und deutsche Nazi-Gegner. Sie suchten Zuflucht vor den Repressalien der Sudetendeutschen Partei und ihrer Anhänger, und kamen meist ins Landesinnere, nach Prag. Genau dort, am Masaryk-Bahnhof erinnert seit Donnerstag eine Gedenktafel an die Ereignisse. Für viele der Flüchtenden war es der Beginn einer jahrelangen Verfolgung, häufig mit tödlichem Ausgang.

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Die Nationalhymne begleitete am Donnerstag die Enthüllung der neuen Gedenktafel. Die Frage „Wo ist meine Heimat“ stellte sich im Herbst 1938 hunderttausenden Tschechoslowaken. Sie lebten in den Grenzgebieten, die Hitler immer vehementer für sich beanspruchte. Jaroslav Těšínský vom Zentrum der tschechischen Geschichte, einem gemeinnützigen Verein, hat das Erinnerungszeichen am Masaryk-Bahnhof initiiert:

„Wir haben uns diesem Kapitel unserer Geschichte zugewandt, weil wir denken, dass man sich bei uns kaum an diese Zeit erinnert. Dabei ist es doch eine Schlüsselperiode vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Wir wollten nun diese Vertriebenen ehren, und zwar unabhängig von deren Nationalität und ihrem Bekenntnis.“

Erinnert wird an 340.000 Tschechen, über 25.000 Juden und etwas 12.000 Deutsche. Sie alle waren den gewaltsamen Übergriffen von Nazis und Anhängern der Sudetendeutschen Partei ausgesetzt – bereits bevor das Münchner Abkommen am 30. September das Ende der Tschechoslowakei besiegelte. Thomas Oellermann hat sich als Vertreter der Seliger-Gemeinde für die Gedenkplatte engagiert.

Thomas Oellermann  (Foto: Archiv Collegium Bohemicum)
„Es sind tschechische Beamte, die aus Furcht um das eigene Leben in das sogenannte Innerböhmen flüchten, in tschechische Gebiete. Es sind Juden, die wissen, welcher Verfolgung Juden im innerdeutschen Reich bereits zu diesem Zeitpunkt ausgesetzt sind. Und es sind natürlich auch die sogenannten antifaschistischen Deutschen, also Sudetendeutsche, die sich aber zur demokratischen Tschechoslowakei bekennen.“

Eine neue Dimension erreichte die Fluchtwelle nach dem Münchener Abkommen, als das Sudetenland dem Deutsche Reich zugesprochen wird. Ungehemmt werden Tschechen, Juden und deutsche Nazi-Gegner nun an die neue Grenze getrieben, in die dezimierte Tschechoslowakei. Indirekt betroffen war auch Tomáš Kraus, der Generalsekretär der jüdischen Gemeinde in Tschechien. Seine Mutter kam aus Teplice im Sudentenland.

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„Ich bin ein Beispiel dafür, wie historische Ereignisse in das Leben ganz gewöhnlicher Menschen eingreifen. 1938 musste die Familie meiner Mutter von einem Tag auf den anderen ihr Zuhause verlassen. Es waren insgesamt sieben Geschwister, die Eltern und die Großeltern. Sie haben sich für Prag entschieden, und sie sind hier auf diesem Bahnhof angekommen.“

Der Masaryk-Bahnhof wurde als symbolischer Ort für das Gedenkzeichen gewählt, weil hier im September und Oktober 1938 besonders viele Züge aus den Grenzgebieten eintrafen. Hilfsorganisationen empfingen die Binnenflüchtlinge, sie wurden in Notunterkünfte wie Turnhallen und Sportarenen untergebracht. Vielen gelang es, am neuen Ort Fuß zu fassen – zumindest vorübergehend. Als im März 1939 die Deutschen auch in Prag einmarschierten, war die Tschechoslowakei endgültig zerstört. Viele Neuankömmlinge stellten bald fest, dass die Flucht nur der Anfang gewesen war. Tomáš Kraus:

Tomáš Kraus  (Foto: Jana Šustová,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
„Meine Mutter hat hier zu dieser Zeit meinen Vater kennengelernt. Für mich persönlich könnte ich also dankbar sein, dass es so gekommen ist. Aber ich bin es nicht. Denn meine Mutter war die einzige aus ihrer Familie, die überlebte, was auf das Münchner Abkommen folgte: die Deportationen ins Ghetto Theresienstadt und die Konzentrationslager.“


Mit der Gedenktafel ist die Arbeit lange nicht beendet: Historiker wollen das Kapitel weiter erforschen und sammeln Zeitzeugenberichte und Dokumente.

Kontakt und Informationen finden sich unter www.utekyavyhnani1938.cz