Tschechien ist seit mehr als 100 Tagen Mitglied der EU
In der heutigen Ausgabe unserer Sendereihe Schauplatz versucht Robert Schuster eine erste Bilanz der Mitgliedschaft Tschechiens in der Europäischen Union zu ziehen.
Seit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union sind mehr als hundert Tage vergangen. Diese Zeit ging nicht nur sehr schnell, sondern aus tschechischer Sicht auch relativ unspektakulär vorüber. Trotz der vielen, vor dem 1. Mai von den Medien verbreiteten und von vielen Tschechen für bare Münze genommenen Berichte, wonach sich nach dem Beitritt über Nacht fast alles ändern würde, ist das Leben eines Durchschnittstschechen seither nicht anders geworden.
Die Reisenden von und nach Tschechien konnten in den Tagen unmittelbar nach dem 1. Mai als Erste die Mitgliedschaft hautnah erleben, denn durch die wesentliche Vereinfachung der Grenzformalitäten und das Wegfallen der inneren Zollgrenzen haben sich im Regelfall auch die Wartezeiten an den Grenzübergängen verkürzt. Ebenso hatten während der Ferienwochen junge Tschechen erstmals die Gelegenheit, in Irland oder Großbritannien, also jenen beiden Mitgliedsländern, die ihren Arbeitsmarkt für die neuen EU-Länder schon von Beginn an öffneten, einen Ferienjob zu suchen. Und nicht zuletzt eröffnete die Teilnahme am gemeinsamen Europäischen Binnenmarkt auch für tschechische Unternehmen neue Möglichkeiten.Welche Bilanz über die ersten hundert Tage der tschechischen EU-Mitgliedschaft ziehen aber die Experten, die sich schon seit Jahren mit der Materie beschäftigen? Das fragten wir Frau Daniela Cervova, die das Informationszentrum der Europäischen Union in Prag leitet. Zu unserer Frage meinte sie:
"Wenn auch die ersten 100 Tage eine sehr kurze Periode darstellen, glaube ich schon, dass die vielen Informationen, die wir vor dem Beitritt bekommen haben und die so horrormäßig klangen, nicht bestätigt wurden. Die Preise sind nicht gestiegen; wir haben keinen hohen Zustrom von Ausländern aus den alten Mitgliedsstaaten verzeichnet, die hier Immobilien erwerben wollten. Auf der anderen Seite können auch die alten Mitgliedsstaaten beruhigt sein, denn der befürchtete Zustrom von Mitbürgern aus den neuen Staaten ist auch nicht eingetreten. Also in diesen Bereichen würde ich sagen, dass die Bilanz sehr positiv ausfallen würde."
Ein weiterer, nicht weniger wichtiger Aspekt war im Zusammenhang mit der größten Erweiterung aller Zeiten die Frage nach dem Gelingen der institutionellen Integration der neuen 25er Gemeinschaft. Nach den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament vom Juni dieses Jahres, wurde mit der Vorstellung der neuen EU-Kommission, die in den vergangenen Tagen erfolgte, dieser Prozess offiziell abgeschlossen. Jetzt wird also die tägliche Praxis zeigen, wie sich die Neuen in diesen Gremien bewähren werden. Daniela Cervova vom Prager EU-Informationszentrum bewertet die Entwicklung auf diesem Gebiet allgemein positiv und glaubt auch den Grund für die glatte Eingliederung der zehn neuen Länder zu kennen:
"Ich glaube, dass auch in diesem Bereich alles relativ reibungslos über die Bühne gegangen ist, weil die europäischen Institutionen darauf vorbereitet waren. Im Europäischen Parlament zum Beispiel gab es schon vor dem Beitritt Abgeordnete aus den neuen Mitgliedsstaaten, die bereits die ganze Arbeit beobachten konnten und gesehen haben, wie das alles abläuft, wie die Arbeit dort gemacht wird. Auch am europäischen Verfassungskonvent nahmen die Neuen bereits teil."
Diese Strategie, die Beitrittskandidaten im Rahmen des Verfassungskonvents von Beginn an an den Beratungen über die künftige Gestalt der erweiterten Union teilnehmen zu lassen, war, so Frau Cervova weiter, eine richtige Entscheidung. Wenn auch deren Vertreter im besagten Gremium nur eine beratende Stimme hatten, konnten sie doch ihre Interessen und Positionen schon im Vorfeld ihrer eigentlichen Mitgliedschaft artikulieren. In einigen Politikbereichen traten laut Daniela Cervova bereits während der Beratungen im Konvent erstmals einige Konfliktlinien zwischen neuen und alten Mitgliedern offen zu Tage, wie zum Beispiel über die künftige Ausrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Unterschiede würden zwar nach wie vor existieren, aber gegenwärtig nicht mehr so stark im Vordergrund stehen und somit andere, ebenfalls wichtige Politikfelder überlagern, bei denen zwischen neuen und alten Mitgliedern größerer Konsens herrscht.
Wie wir bereits gehört haben, ist der tschechische EU-Beitritt praktisch friktionsfrei verlaufen. Unter ganz anderen Vorzeichen standen aber die ersten 100 Tage EU-Mitgliedschaft in der benachbarten Slowakei, wo es im Zuge des Beitritts zu gewissen Versorgungsengpässen bei Milchprodukten gekommen ist. Die slowakischen Molkereien begannen nämlich nach dem 1. Mai ihre Produkte zu weitaus günstigeren Konditionen und natürlich auch höheren Preisen verstärkt in den gemeinsamen Binnenmarkt zu exportieren. Die Folge war dann Milchknappheit in den Geschäften und ein fast um das Zweifache gestiegener Butterpreis.
Gerade solche, vorher nicht absehbare Entwicklungen wie in der Slowakei, bei denen ein Zusammenhang zwischen bestimmten Fehlentwicklungen und der EU-Mitgliedschaft hergestellt werden kann, können die Unterstützung und öffentliche Akzeptanz für die Europäische Union beim gemeinen Volk stark gefährden, wie auch die aktuellen Umfragen beim östlichen Nachbarn Tschechiens zeigen.
Hierzulande sind bislang vergleichbare Tendenzen ausgeblieben. Bedeutet das also automatisch, dass die Tschechen die Mitgliedschaft ihres Landes bereits voll akzeptiert hätten und sie auch unterstützen würden? Dazu meint Daniela Cervova vom EU-Informationsbüro:"Also, es gab eine Umfrage von Eurobarometer, die gezeigt hat, dass nur 40 Prozent der Tschechen für den Beitritt sind. Hätten wir jetzt ein Referendum über den Beitritt, würde es scheitern. Deshalb gibt es auch Befürchtungen im Zusammenhang mit dem europäischen Verfassungsvertrag. Wenn es nämlich darüber eine Volksabstimmung geben würde, wäre die Gefahr einer Ablehnung vonseiten der Bürger groß. Das kommt aber teilweise auch daher, dass die Tschechen relativ gleichgültig sind gegenüber anderen neuen Mitgliedstaaten und auch in Bezug auf die Mitgliedschaft selbst. Viele sehen das heute als etwas völlig Normales. Schließlich bemerkt man die Mitgliedschaft im normalen Leben fast gar nicht."
Gemäß den Aussagen von Frau Cervova müsste demnach auch das Interesse der Tschechen an Informationen über die Europäische Union, so wie sie in den letzten Jahren nicht zuletzt auch vom EU-Informationsbüro vermittelt wurden, abnehmen. Heißt das also, dass jetzt bedeutend weniger Anfragen aus der Bevölkerung kommen wie unmittelbar vor dem 1. Mai dieses Jahres? Hören Sie dazu abschließend noch einmal Daniela Cervova vom Prager Informationsbüro der Europäischen Union:
"Direkt nach dem Beitritt und kurz vor dem Beitritt hatten wir einen zusätzlichen Zustrom von mehr als 30 Prozent. Jetzt während der Ferienzeit ist es ruhiger, weil auch die Kommission im August nicht so viel arbeitet und viele das auch wissen. Daher haben wir jetzt nicht so viele Anfragen. Aber wenn Fragen gestellt werden, ist es auffallend, dass sie noch spezifischer sind, als vor dem Beitritt. Wir müssen viele davon ständig mit dem Außenministerium besprechen, weil wir die Antworten gar nicht wissen. Es wird nach sehr konkreten Dingen gefragt, wie man sich zum Beispiel in dem einen oder anderen Land bewegen, sich niederlassen oder reisen kann. Also die Komplexität der Fragen ist gestiegen, und es ist gut zu hören, dass die tschechische Bevölkerung sich sehr für diese Dinge interessiert."