Von der Botschaft in die Freiheit: 25 Jahre Flüchtlingsdrama in Prag

Foto: ČT24

Vor genau 25 Jahren, am Abend des 30. September 1989, versprach Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den tausenden DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik freies Geleit in den Westen. Vorangegangen waren langwierige Verhandlungen mit der DDR-Führung, die schließlich unter einer Bedingung zustimmte: Die Sonderzüge der Reichsbahn dürfen nicht direkt nach Bayern fahren, sondern werden über das Territorium der DDR geschleust. Es war die letzte Souveränitätsbekundung einer zusammenbrechenden Diktatur, nur wenige Wochen später fiel die Berliner Mauer.

Am Abend des 30. September tritt der Bundesaußenminister Genscher auf den Balkon  (Foto: Archiv ZDF)
Ende September 1989 platzt die Botschaft der Bundesrepublik in Prag aus allen Nähten. Mehr als 4000 DDR-Bürger belagern die Korridore und den Garten des barocken Palais Lobkowitz. Die hygienischen Verhältnisse werden trotz der Fürsorge des Botschaftspersonals langsam untragbar. Plötzlich geht ein Gerücht durch die Menge: Genscher ist hier! Am Abend des 30. September tritt der Bundesaußenminister auf den Balkon:

„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Erinnerungstafel auf dem Balkon  (Foto: Archiv der Botschaft der Bundesrepublik in Prag)
Das Ende des Satzes versinkt im Jubel der Flüchtlinge. Nachlesen kann man ihn auf einer Erinnerungstafel, die heute auf dem Balkon montiert ist: „... dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist“, hat Genscher damals gesagt.

Der tschechische Fotograf Antonín Nový hat die Ereignisse für die Presseagentur AP festgehalten. Nun steht er wieder an derselben Stelle und blickt durch den Botschaftszaun in den Garten, in dem sich vor 25 Jahren mehrere tausend Menschen in der Dunkelheit drängten:

„Als Genscher diese große Sache verkündete, lief es mir kalt über den Rücken. Professionell betrachtet war die Situation vielleicht ein bisschen unglücklich. Der Balkon war schlecht beleuchtet, die Menschen dort waren kaum zu sehen. Trotzdem konnte ich von hier aus ein Foto machen, das um die Welt ging: vorne die in die Höhe gereckten Hände der jubelnden Menschen, im Hintergrund matt die Szenerie auf dem dunklen Balkon. Ein sehr emotionales Bild.“

Antonin Nový  (Foto: Gerald Schubert)
Einen Namen gemacht hatte sich Nový bereits 1968 mit seinen Fotos von der Niederschlagung des Prager Frühlings. Damals ließ er sich im besetzten Gebäude der Nachrichtenagentur ČTK einsperren, wo ein Bildtelegraf stand. So waren seine Fotos die ersten Agenturbilder von der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen. 1989 sah er sich nun abermals im Zentrum des Geschehens:

„Ich habe gefühlt, dass hier Geschichte geschrieben wird. Dabei konnte ich noch gar nicht ahnen, was dieser Anfang bedeutet – dass die Berliner Mauer fallen wird, dass es zur deutschen Wiedervereinigung kommt und damit auch zu einer neuen Rolle Deutschlands in Europa.“

DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft  (Foto: ČT24)
Was hier vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf der Prager Kleinseite geschah, hat auch vielen Tschechen Mut gemacht, ist Nový überzeugt:

„Die Prager konnten anfangs gar nicht begreifen, woher diese Leute plötzlich den Mut nahmen, alles zurückzulassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Woher nahmen sie plötzlich diese Energie?“

Die DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft sind auch Teil des tschechoslowakischen Wegs in die Demokratie. Bereits im November brachte eine Studentendemo das ČSSR-Regime ins Wanken, Ende Dezember zog der Dichter und Dissident Václav Havel als Staatsoberhaupt auf der Prager Burg ein.