Von der Charta 77 zum Kulturbauernhof Řehlovice: der Künstler Jan Korbelík über Emigration und internationale Verständigung

Jan Korbelík (Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice)

Jan Korbelík ist Künstler, Indologe und Übersetzer. Seit der Wende engagiert er sich auf dem Kulturbauernhof in Řehlovice. Er ist mit Lenka Holíková, der Leiterin des Bauernhofesm, befreundet und hat an allen größeren Aktionen der letzten Jahre mitgewirkt. Sein Lieblingsprojekt ist das Künstlersymposium „Proudění“ (dt.: Strömungen), das bereits seit zehn Jahren regelmäßig im Juli auf dem alten Meierhof stattfindet. Jan Korbelík lebt jetzt in Wien, dorthin emigrierte er Ende der siebziger Jahre. Als 18-Jähriger hatte er bereits die Charta 77 unterzeichnet und konnte deshalb nicht studieren. Als der damalige österreichische Bundeskanzler allen Charta-Unterzeichnern politisches Asyl anbot, nutzte Korbelík dies und ging nach Wien.

Jan Korbelík  (Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice)
Herr Korbelik, vielen Dank, dass Sie heute die Zeit für ein Interview gefunden haben. Sie haben noch in der kommunistischen Tschechoslowakei das Abitur gemacht, durften dann aber nicht studieren. Vielleicht können Sie kurz ein paar Worte dazu sagen.

„Nach dem Abitur habe ich zunächst im Krankenhaus gearbeitet, weil ich die Chance auf einen Studienplatz als sehr niedrig eingestuft hatte. Im Februar 1977 habe ich dann die Charta 77 unterzeichnet und damit war mir der Weg zum Studium in der Tschechoslowakei versperrt gewesen.“

Wie ging es dann weiter? Litten Sie nach der Unterzeichnung unter Repressionen von Seiten des Staates?

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
„Unter direkten Repressionen musste ich nicht leiden. Ich wurde mehrmals von der Polizei verhört. Das war manchmal sehr unangenehm, aber ich wurde nicht gefoltert. Allerdings habe ich hin und wieder ein paar Schläge bekommen. Man sagte, dass die Jüngeren immer mal wieder geschlagen wurden, während die Älteren über dreißig verschont blieben. Da ich als Sanitäter gearbeitet hatte, konnten sie mir praktisch nichts antun, weil sie so jemanden wie mich brauchten. Wegen des chronischen Arbeitsmangels war man auf einer solchen Arbeitsstelle geschützt.“

Wenzelsplatz in Prag
Wie ging es weiter? Waren Sie politisch aktiv? Man könnte sagen, Sie waren ein Dissident. Wie muss man sich das vorstellen: Haben Sie etwas Verbotenes oder Unerwünschtes publiziert oder demonstriert?

„Demonstrieren war nicht möglich, die Leute wären sofort verhaftet worden. Ein Beispiel: Wir waren 15 Jahre alt und gingen zu zweit über den Wenzelsplatz in Prag. Ich war mit einem Schulfreund unterwegs und wir haben zufällig zwei weitere Freunde getroffen. Plötzlich waren Polizisten in Zivil da und haben uns auseinander getrieben. Die waren überall, weil sie befürchteten, jemand könnte eine Demonstration beginnen.

Aber wir haben so genannte verbotene Bücher vervielfältigt. Das waren Schriften von tschechischen Schriftstellern, zum Beispiel von Ludvík Vaculík, von Václav Havel oder von Jan Patočka, dem Philosophen. Dazu gehörte auch das Übersetzen ausländischer Schriften und die Verteilung in die Provinz. Dabei bin ich auch einmal verraten worden, jemand aus Prag hat mich bei der Polizei angezeigt.“

Und was passierte, nachdem Sie verraten wurden?

Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
„Ich wurde verhaftet. Es folgte ein Polizeiverhör mit Drohungen, aber auch mit Versprechungen. Sie boten mir an, für sie zu arbeiten. Als Gegenleistung hätte ich die Möglichkeit gehabt, tatsächlich mit einem Medizinstudium zu beginnen. Ich war damals bereits im so genannten Nulljahrgang für Medizin. Das war schon eine große Chance. Das ist eine Art von Universitätsvorbereitungsjahr. Während die Studenten weiter arbeiten, ich zum Beispiel im Spital, lernen sie nebenbei und gehen zu Vorlesungen. Die Polizei hat mir also versprochen, dass der Weg zum Studium frei sei, unter der Bedingung, für sie zu arbeiten. Das wollte ich aber natürlich nicht.“

Sie haben sich dann entschieden nach Österreich auszuwandern. Wie haben Sie das geschafft? Sind sie geflüchtet oder haben Sie einen Ausreiseantrag gestellt?

„Die Flucht war gefährlich. Jedes Jahr sind viele Leute geflüchtet, entweder haben sie die gefährliche Methode über die Drähte des Eisernen Vorhangs gewählt oder sie probierten die sanftere Methode, beispielsweise eine Flucht über Jugoslawien. Von dort war es kein Problem nach Österreich zu emigrieren, weil der Eiserne Vorhang dort nicht existierte. Aus diesem Grund durften auch viele Menschen nicht als Touristen nach Jugoslawien reisen.

Hannah Arendt
Ich habe offiziell einen Antrag auf Ausreise gestellt. Ich hatte mir schließlich vorgenommen, doch noch zu studieren und eigentlich hatte ich wirklich die Nase voll von dem Regime. Hannah Arendt hat mal geschrieben: „In einem totalitären Regime kann man nicht einmal richtig denken“. Ich dachte dann, na ja, vielleicht bin ich auch schon irgendwie verdorben oder irgendwie innerlich beschädigt.

Der damalige österreichische Bundeskanzler Kreisky hatte die Chartaleute eingeladen. Sie wurden sofort aufgenommen, erhielten ein Visum und nach einem Asylverfahren konnten sie dauerhaft im Land bleiben. Er hat sich ausgerechnet, dass nur ein paar hundert Leute kommen würden. Meiner Schätzung nach waren es vielleicht 200 Leute, die dann über Wien weiter nach Australien, Amerika und Kanada emigriert sind. In Wien sind etwa 50 Leute geblieben.

Foto: Europäische Kommission
Für den Antrag musste ich viele Dokumente einsammeln und nachweisen, dass ich keine Schulden hatte. Dann wurde eine komplizierte Bücherliste erstellt und mit einer versiegelten Handtasche bin ich über die Grenze gereist. Die Handtasche ist von einem Zöllner in Prag versiegelt worden und an der Grenze haben sie kontrolliert, was ich anhatte bzw. ob ich nicht zu viel mit dabei hatte. Und dann bin ich wirklich nach Wien gekommen.“

Nachdem Sie in Wien angekommen waren, wie ging es dann weiter?

„Zuerst wartet man auf das politische Asyl und dann darf man arbeiten und ich habe dann angefangen zu studieren, aber nicht Medizin. Mich hat immer Indien als Kultur interessiert, also habe ich Indologie studiert. Ich hatte schon in Prag an einer Sprachschule Sanskrit gelernt, das konnte man mir nicht verbieten, weil ich das selbst bezahlt hatte. Also habe ich dann Indologie und Philosophie studiert, und im Laufe des Studiums habe ich dann begonnen, immer mehr zu malen.“

Lenka Holíková  (Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice)
Wir sind in Řehlovice, auf dem so genannten Kulturbauernhof. Sie sind hier sehr engagiert, zum Beispiel bei Kunstprojekten. Wie kam es dazu, dass Sie in diesem deutsch-tschechischen Bereich aktiv geworden sind?

„Ich habe im Jahr 1991 Lenka Holíková, die Leiterin des Bauernhofs, in Deutschland kennen gelernt und wir haben dann festgestellt, dass wir viele gemeinsame Bekannte hatten. Sie hat in Deutschland gelebt und in Krefeld an der Fachhochschule studiert. Dann hat ihr Vater diesen alten zerfallenen Bauernhof hier gekauft, eigentlich ein Meierhof. Lenka hat nach ein paar Jahren die Idee gehabt, inspiriert durch ihre Freunde aus Deutschland, die alle Künstler sind, dass hier etwas Internationales entstehen könnte. Wir sind ja hier fast an der deutschen Grenze, Dresden ist nicht einmal eine Autostunde entfernt.“

Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice
Wie lange läuft den das Projekt Proudění, das gerade zu Ende gegangen ist, schon?

„Das gibt es schon seit dreizehn Jahren.“

Ist das Projekt erfolgreich? Melden sich viele Künstler aus Deutschland und Tschechien? Und vielleicht auch aus anderen Nationen?

„Es ist unglaublich erfolgreich. Im Jahr 1999 fand „Proudění“ das erste Mal statt. Das Symposium hat natürlich nicht dieselbe Bedeutung wie die Bienále in Venedig, aber es wird immer bekannter. Es melden sich immer mehr Leute an, und das ist wichtig. Wir sind hier im Sudetenland und aus dem Dorf Řehlovice wurden die Menschen vertrieben. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Deutschen und Tschechen hier treffen.

Kulturbauernhof in Řehlovice  (Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice)
Zurück zu Proudění. Es ist wirklich sehr erfolgreich und wir genießen es immer, das Feedback der Menschen zu bekommen. Wir haben Teilnehmer aus Deutschland, aus Österreich, aus der Slowakei und auch aus der Schweiz. Es waren auch schon mehrere amerikanische Studenten hier, die in Prag studiert und einen Film über uns gedreht haben.“

Projekt Proudění  (Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice)
Wie ist es denn mit der Bevölkerung vor Ort, akzeptieren die Leute das Kulturprojekt oder gibt es Probleme?

„Probleme gibt es eigentlich keine. Zuerst, so hatte ich das Gefühl, waren die Menschen zurückhaltend. Sie haben geschaut, wenn wir in der Dorfkneipe saßen, und sich gefragt: Was machen diese Menschen da, diese Deutschen… Aber das ist schon lange her, jetzt freuen sie sich und kommen auch zur Vernissage. Sicher kommt nicht das ganze Dorf und auch wenn sie die Kunst kaum interessiert, schauen doch ein paar Leute vorbei.“

Es ist also nicht nur ein internationales Projekt, sondern es profitieren auch die Leute hier vor Ort?

Kulturbauernhof in Řehlovice  (Foto: Archiv von Kulturzentrum Řehlovice)
„Ja, eindeutig. Und das ist wichtig, es ist gut, dass die Leute hier aus dem Dorf auch etwas davon haben und die Begegnungen mit den Menschen genießen können. Proudění ist ja nur eine von vielen Aktionen. Es gibt noch weitere deutsch-tschechische Projekte mit Kindern und für Erwachsene mit Behinderungen. Die treffen sich dann hier in Řehlovice und dann wieder in Deutschland, in Dresden oder in Pirna. Diese Aktionen sind für mich sehr sinnvoll. Malen oder Kunst machen kann jeder, aber dass sich die Menschen dabei international oder auch regional begegnen, dass ist eine große Entwicklung nach den vielen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Das ist phänomenal!“


Dieser Beitrag wurde am 2. August 2011 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.