Vortrag von Prof. Wierlacher im Goetheinstitut

Im Rahmen einer Vortragsreihe am Prager Goetheinstitut, war Professor Alois Wierlacher eingeladen, um ueber das Essen als Kulturthema zu berichten. Wierlacher ist Gruender der deutschen Akademie fuer Kulinaristik in Bayreuth, eine Institution, die sich zur Aufgabe gestellt hat, den Lebensbereich rund um das Essen zum wissenschaftlichen Thema zu machen. Unter anderem von der italienischen Slow-Food-Bewegung angeregt, soll das Kulturthema Essen auch in die Oeffentlichkeit getragen werden. Joern Nuber berichtet.

Grundgedanke Wierlachers ist, dass die Essgewohnheiten einer Kultur Schluesse ueber den Zustand der Kultur im allgemeinen, also ueber ihre Identitaet, zulassen. Er versteht das Essen als eine Symbolsprache, die es nur richtig zu deuten gilt.

So weist der Essensexperte darauf hin, dass in Tschechien seit der Wende immer mehr auslaendische Lokale mit fremden Kuechen zugeanglich sind. Mit diesen fremden Kuechen werden gleichzeitig auch fremde Essordnungen importiert. Hamburger isst man z.B. nicht mit Messer und Gabel, sondern einfach mit der Hand - und womoeglich sogar im Gehen. Dies steht freilich im krassen Gegensatz zur traditionellen Mahlzeit am Familientisch, bei der - jedenfalls bisher - Knoedel, Schweinebraten und Gulasch auf dem Speiseplan standen. Wierlacher sieht die tschechische Kultur noch in einer Orientierungssituation. Alte Regelsysteme -fuer diese stehen Knoedel und Kraut- werden in Frage gestellt, neue haben sich aber noch nicht durchgesetzt.

Eine folgenreiche Entwicklung sieht Wierlacher jedoch darin, dass das Essen in oeffentlichen Lokalen immer beliebter wird:

Laut Professor Wierlacher werden Freundschaften, die ja irgendwie auch eine Kommunikationsangelegenheit sind, mehr und mehr essend gestaltet. Das alte tschechische Sprichwort : Dobré chutnání, zadné povidání - Guten Appetit, keine Rede, wird von dieser Generation getrost missachtet. Es darf also mit vollem Mund gesprochen werden.

Dies gilt allerdings nur fuer Tischgemeinschaften, die sich aus Freunden zusammensetzen. In tschechischen Familien kann das ganz anders aussehen. Familien mit Kindern sind, wohl auch wegen des Geldes, in oeffetlichen Lokalen nur selten anzutreffen. Gleich von einer Verdraengung der Familien aus dem oeffentlichen Leben zu sprechen waere sicher uebertrieben. Es kann aber vielleicht doch gesagt werden, dass schon aus diesen beiden moeglichen Essordnungen -die Familie zu Hause auf der einen Seite, Freunde, die im Restaurant essen auf der anderen Seite- deutlich wird, inwieweit die tschechische Kultur sich zwischen Tradition und Neuerung orientiert. So laesst sich zumindest die Wandlung sozialer Strukturen von veraenderten Essgewohnheiten ableiten.

Autor: Joern Nuber
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