Zwischen Politik und Postsparkasse: Grundkurs Tschechien aus dem Buchregal

Hans-Jörg Schmidt

"Tschechien - eine Nachbarschaftskunde für Deutsche" heißt der neueste Zuwachs im Bohemica-Regal deutscher Buchhandlungen. Der dienstälteste der deutschen Prag-Korrespondenten, Hans-Jörg Schmidt, fasst darin seine Erfahrungen mit dem nahen fernen Nachbarn zwischen zwei Buchdeckeln zusammen - ein Grundkurs Tschechien für alle, die mehr über das Land wissen möchten, als Reiseführer erzählen. Buch und Autor stellt Thomas Kirschner in der folgenden Ausgabe von Forum Gesellschaft vor.

In romantisch-warmen Brauntönen leuchtet der Altstädter Brückenturm vom Buchumschlag, und gleich auf den ersten Seiten führt Autor Hans-Jörg Schmidt den Leser auf einen Spaziergang durch die schönsten Ecken des Goldenen Prag. Das aber nur in aller Kürze, denn ein Reiseführer will das Buch nicht sein, betont Hans-Jörg Schmidt:

"Das ist es ganz und gar nicht, sondern es ist eigentlich ein politisches Buch, für Leute, die sich für Politik und für das Nachbarland interessieren, aber auch für Leute, die sich auf das Nachbarland einlassen wollen, für Leute, die wegen Beruf oder Liebe oder aus welchem Grund auch immer hierher kommen - damit sie wissen, dass hier doch einiges anders ist als zu Hause in Deutschland und damit sie auch verstehen, woher diese Andersartigkeit kommt."

Die Andersartigkeit von Tschechien, das Leben und Geschehen in Tschechien für deutschsprachige Leser zu erklären, das ist seit mittlerweile 16 Jahren der Beruf von Hans-Jörg Schmidt. Nach Prag ist er kurz nach der Wende gekommen, im Sommer 1990, damals als Korrespondent des DDR-Hörfunks. Der wurde bald abgewickelt, Hans-Jörg Schmidt aber ist in Prag geblieben und berichtet inzwischen unter anderem für Die Welt und die Sächsische Zeitung aus Tschechien - einem Land, das dem dienstältesten der deutschsprachigen Korrespondenten in Prag zur zweiten Heimat geworden ist. Hier hat er nicht nur die Veränderungen seit der Wende mitverfolgt, sondern auch die oft mühsamen Versuche, das nicht selten spannungsreiche Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen nach der Einigung Europas auf eine neue Basis zu stellen. Gerade das ist einer der Hauptaspekte des Buches, durch den Hans-Jörg Schmidt seine "Nachbarschaftskunde" etwa von Jiri Grusas "Gebrauchsanweisung für Tschechien" unterschieden wissen will:

"Ich habe mit dem Buch versucht, ein Wort von Vaclav Havel, das ich sehr treffend finde, zu illustrieren: `Die Deutschen sind für die Tschechen Inspiration und Schmerz´, hat Havel gesagt. Das ist ein großes Wort, das muss erklärt werden, und dabei kommt man um die gemeinsame Geschichte nicht herum. Das Problem im deutsch-tschechischen Verhältnis ist, das die gemeinsame Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch abgebrochen ist. Als normaler Mensch lebt man im Hier und Heute und versteht auch seine Umwelt aus dem Hier und Heute. Gerade in dem Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen ist es aber erforderlich, dass man auch zurück in die Geschichte geht und erklärt warum die Dinge so sind, wie sie heute sind. Das unterscheidet das Buch von anderen, dass es sehr auf die Geschichte eingeht, ohne aber ein Geschichtsbuch sein zu wollen."

Prag
Die tschechisch-deutsche Geschichte aber ist zu einem guten Teil die Geschichte der Sudetendeutschen. Mit ihren unaufhörlichen Forderungen und Mahnungen wurden die heimatvertriebenen Sudetendeutschen lange Zeit in Tschechien wie auch in Deutschland vor allem als störend wahrgenommen. Was sich vor Ort schon lange zeigt, setzt sich aber allmählich auch im politischen Denken durch: dass die Sudetendeutschen Tschechien und Deutschland nämlich weit stärker verbinden als trennen. Die jahrzehntelang starren Fronten weichen allmählich auf und schaffen Platz für einen neuen Dialog- auch in Deutschland, wie Hans-Jörg Schmidt beobachtet:

"Ich erinnere mich beispielsweise an die Auseinandersetzungen, die es in der 1968er-Generation um das Bild der Sudetendeutschen gegeben hat. Antje Vollmer, die ehemalige Bundestags-Vizepräsidentin der Grünen, ist ein sehr gutes Beispiel. Sie hat sich hingestellt und gesagt: Ja, wir haben hier Fehler gemacht. Wir haben einfach pauschal die Vätergeneration verurteilt, und da gehörten die Sudetendeutschen gleich mit dazu. Auch in der 1968er-Generation hat sich da inzwischen ein Wandel vollzogen, der aber für mein Dafürhalten in der deutschen Presse kaum zum Ausdruck kommt. Eigentlich redet man über die Vertreibung und die Vertriebenen viel zu wenig. Es sind nach vor die Schmuddelkinder - und sie sind es gerade nicht: Durch ihren Bezug zu ihrer alten Heimat in der Tschechoslowakei sind sie eben die, die sich hier für das Land interessieren, und ich bin der festen Überzeugung, dass es die einzigen Deutschen sind, die sich wirklich für das Schicksal Tschechiens interessieren."

Zu einer richtigen Nachbarschaftskunde aber gehört natürlich nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten - Erlebnisse aus dem ganz alltäglichen Leben in dem Land, in dem zwar vieles ist, wie daheim, aber eben doch nicht alles. Zuerst musste das die damals 14-jährige Tochter Irene feststellen, als sie 1990 gleich nach dem Umzug nach Prag auf eine tschechische Schule kam:

"Es gab dann solche Geschichten, dass sie am ersten Tag auf Strümpfen durch das Gymnasium laufen musste, weil wir einfach nicht gewusst haben, dass man in tschechischen Schulen als Schüler Hausschuhe zu tragen hat. Sie hatte keine mit, also musste sie auf Strümpfen gehen - aber sie hat´s überlebt."

Da draußen ist Tschechien - Hans-Jörg Schmidt auf seinem Prager Balkon  (Foto: Autor)
Und nicht nur überlebt - sie war auch bald in der Klasse integriert und bei der ersten bestandenen Bewährungsprobe auf Tschechisch gab es stürmischen Applaus der Mitschüler. Während Hans-Jörg Schmidt in seinem Buch gegenüber Politik und öffentlicher Sphäre in Tschechien nicht mit Kritik spart, zeichnet er sehr liebevoll das private Leben zwischen Wohnzimmer und Wochenendhaus, die ruhige Gemütlichkeit der Tschechen, die Bereitschaft zu nachbarschaftlicher Hilfe und zum kleinen Schwätzchen, die auch schon mal groteske Formen annehmen kann. Zum Beispiel am sogenannten Inkasso-Tag, an dem monatlich die Rechnungen von Miete, Strom, Gas, Wasser und Telefon zugleich fällig werden. Da zahlreiche Tschechen dem Girokonto immer noch misstrauisch gegenüber stehen, gehen sie lieber persönlich zur Post, erzählt Hans-Jörg Schmidt:

"Man stellt sich mit all den lieben tschechischen Mitbewohnern in eine endlose lange Schlange an und staunt erstmal, dass das Ganze nur an einem Schalter stattfindet, während die Damen an den drei anderen Schaltern Kaffee trinken und sich die Fingernägel feilen. Interessant ist aber, dabei die Gespräche der Leute zu verfolgen. Die Warteschlange ist ein gesellschaftliches Zentrum: da kommen Leute hin, die sich darauf freuen, dass sie dort Nachbarn treffen und mit denen über alles Mögliche reden können. Und das kann man dann tatsächlich auch genießen. Das würde einem Deutschen natürlich niemals einfallen, aber es gibt eben Leute, die finden das schön, sich an jedem 15. in langer Schlange an der Post anzustellen, beispielsweise."

Nach 16 Jahren in Tschechien ist die Zahl solcher Geschichten natürlich Legion. Für einen Journalisten ein Traum, einmal eine Quintessenz aus all seinen Erfahrungen ziehen zu dürfen?

"Nein, es ist ein Alptraum, weil ich natürlich ein Buch hätte schreiben können, das fünfmal so dick ist. Man muss sich eben beschränken, und das war das eigentliche Problem beim Schreiben. Man hat eine Fülle an Material, immer wieder fallen einem Dinge ein oder man begegnet Kollegen, die einen wieder an etwas anderes erinnern, das man sich eigentlich sofort notieren müsste. Natürlich hat man dann gerade keinen Stift dabei, aber manchmal ist das auch gut so, denn es wäre eine solche Materialfülle geworden, dass man eben auch einmal sagen muss: Jetzt ist Schluss!"

Für alle, die an dieser Stelle nicht Schluss machen wollen: Das Buch "Tschechien - Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche" von Hans-Jörg Schmidt ist im Christoph Links Verlag in Berlin erschienen und kostet 16,90 Euro.