„Mitten am Rande“: Interview-Buch stellt engagierte Persönlichkeiten aus ehemaligem Sudetenland vor
Der tschechische Verein Antikomplex hat jüngst die Publikation einer Buchreihe gestartet, die Interviews mit Menschen liefert, die sich im ehemaligen Sudetenland engagieren. „Mitten am Rande“ ist der Name der Reihe, und die darin vorgestellten Personen sind etwa aktive Lehrer, die Gründer von Bürgerinitiativen oder Festivalveranstalter. Laut Antikomplex ist die vierbändige Buchreihe nicht dazu gedacht, im Bücherregal zu verstauben – stattdessen soll sie dazu einladen, die tschechischen Grenzgebiete neu zu entdecken.
Der tschechische Verein Antikomplex beschäftigt sich eigentlich eher mit geschichtlichen Themen – vor allem mit der Aufarbeitung der Geschehnisse nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung. Die jüngste Veröffentlichung der Organisation setzt sich aber mit einem eher aktuellen Thema auseinander. „Mitten am Rande“ heißt die Buchreihe, und Veronika Kupková hat sie herausgegeben:
„Wir haben uns die Frage gestellt, welche Menschen eigentlich heute im Grenzgebiet leben. Und die Geschichten sind alle wirklich sehr spannend.“
Die Publikationsreihe, von der bisher die ersten zwei Bände erschienen sind, beinhaltet jeweils rund 15 Interviews mit „Menschen, die dem Sudetenland ein neues Gesicht geben“, wie es im Untertitel des Buches heißt. Kupková erläutert, welche Personen in der Publikation porträtiert werden:
„Unser Ziel war es, Menschen zu finden, die in der Region einen Wandel anregen. Es sind also Leute, die im Grenzgebiet etwas Spannendes machen – und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Rest der Gesellschaft, etwa weil sie sich für Natur, Geschichte oder Architektur einsetzen.“
Entstanden ist die Idee bei Antikomplex dabei während der Corona-Zeit…
„Das mag heute lustig klingen. Aber während der Pandemie sind wir alle in Panik verfallen. Und besonders in den deutsch-tschechischen Beziehungen war vieles nicht mehr so möglich wie zuvor. Wir haben deshalb überlegt, was wir dennoch machen könnten, um die bilaterale Zusammenarbeit ein bisschen zu stärken.“
Doch wie wurden die Interviewpartner ausgewählt? Schließlich gibt es ja sicherlich etliche Leute, die sich in den tschechischen Grenzgebieten engagieren. Veronika Kupková:
„Wir wollten gerade keine Menschen befragen, die bereits sehr populär sind. Stattdessen wollten wir Initiativen ins Zentrum der Aufmerksam rücken, die etwa kurz vor Beginn der Pandemie angefangen haben oder die generell noch ein bisschen mehr Unterstützung gebrauchen könnten.“
Vorurteile sollen abgebaut werden
Die rund 50 Gespräche, die Veronika Kupková für das zweisprachige Buchprojekt geführt hat, wurden in vier Bände aufgeteilt. Die einzelnen Geschichten wurden dabei fein säuberlich nach den geographischen Regionen sortiert. Während der erste Teil Menschen aus dem nordwestlichen Teil des ehemaligen Sudetenlandes vorstellt – also aus dem Grenzgebiet zu Sachsen –, geht es im jüngst erschienen zweiten Band in den Nordosten Tschechiens. Die weiteren Bände würden gerade intensiv vorbereitet, schildert Kupková:
„Der dritte Teil beschäftigt uns gerade sehr. Er soll im Herbst dieses Jahres erscheinen. Wann der vierte Band kommt, ist noch offen. Ursprünglich wollten wir ihn auch 2024 herausbringen, uns steht allerdings noch viel Arbeit bevor, die wir auch präzise machen wollen. Deshalb wird der letzte Band vielleicht erst Anfang nächsten Jahres das Licht der Welt erblicken.“
Eine der Geschichten, die Interessierte bereits jetzt lesen können, ist die von Petr Globočník (Grüne). In seiner Heimatstadt Litvínov / Ober Leutensdorf hat er ein Gemeindezentrum in einer leerstehenden Villa ins Leben gerufen. Dort bietet er unter anderem Veranstaltungen für die Roma-Minderheit an. Eine weitere porträtierte Person in dem ersten Band ist Marcela Svejkovská. Sie kämpft in Lubenec / Lubenz mit einem Verein gegen die mögliche Errichtung eines Atommüllendlagers und bringt ihren Schülern als Lehrerin tschechisch-deutsche Themen näher – etwa durch Zeitzeugengespräche. Ebenso vertreten sind die beiden Pragerinnen Johana Urbanová und Miriam Macnerová Vilímová. In einer verlassenen Kirche in Horní Vítkov / Ober Wittig veranstalten sie einmal im Jahr das Kulturfestival „Kukokli“ – mit Performance, Musik und Diskussionen.
Durch Berichte von Menschen wie diesen wolle das Team von Antikomplex das gängige Bild vom ehemaligen Sudetenland ändern, sagt Kupková, die selbst im tschechischen Teil des Erzgebirges lebt…
„Wir haben uns lange mit verschiedenen Vorurteilen beschäftigt und dabei gemerkt, dass es in der tschechischen Gesellschaft, aber auch auf der deutschen Seite, immer noch viele Stereotype gibt. Ich denke, unser Projekt kann einen Beitrag dazu leisten, diese Vorurteile abzubauen.“
Denn oft werden die tschechischen Grenzgebiete als strukturschwache und sozial abgehängte Gegenden beschrieben. Stimmt diese Einschätzung?
„An jedem Vorurteil ist ja etwas Wahres dran. Aber wir wollten das Bild zumindest ein bisschen bunter machen.“
Bei den Deutschen sei die Vorstellung vom Sudetenland zudem häufig noch von Eindrücken aus unmittelbaren Nachwendezeit geprägt, sagt sie:
„Auf der deutschen Seite sind wir häufiger dem Phänomen begegnet, dass die Menschen ein Bild aus den 1990er Jahren in ihren Köpfen hatten, als sie zum ersten Mal die Grenzgebiete besucht hatten. Damals war die Situation noch viel schwieriger, und die Menschen haben deshalb gesagt, dass sich die Tschechen um nichts kümmern würden und auf der tschechischen Seite der Grenze alles verfallen und verlassen sei.“
Dass die Eindrücke von damals mit der heutigen Lage in weiten Teilen der früheren Sudetengebiete gar nicht mehr übereinstimmten, würden auch die Geschichten in „Mitten am Rande“ zeigen, so Kupková.
Ein ungewöhnlicher Reiseführer für das Grenzgebiet
Die neue Publikation hat Antikomplex bereits bei Lesungen vorgestellt…
„Wir haben die Bücher schon mehrmals öffentlich präsentiert. Begonnen haben wir mit dem ersten Teil und Veranstaltungen dazu auf der böhmischen und auf der sächsischen Seite der Grenze. Eine tolle Zusammenarbeit besteht immer mit der Ackermann-Gemeinde, die sich sehr für die Thematik interessiert.“
Wir reagieren die Besucher auf die Publikation und das Engagement im Grenzgebiet?
„Bei den Buchvorstellungen kam es oft dazu, dass das Publikum aus Deutschland und Tschechien sehr überrascht ist. Die Zeitzeugen, die nach dem Krieg die Grenzgebiete verlassen mussten oder sich anderweitig mit der Lage vor Ort beschäftigt haben, wundern sich häufig, dass dort heute freiwillig Menschen leben und sich dort wohlfühlen.“
Nicht zu guter Letzt soll die Publikation der Projektmacherin Veronika Kupková zufolge auch Anregung dazu sein, das ehemalige Sudetenland auf eigene Faust zu erkunden…
„Tatsächlich haben wir daran gedacht, dass die Bücher eine Art besonderer Reiseführer für die Grenzgebiete sein könnten. Wir wollen, dass die Menschen das Buch nicht nur lesen und im Schrank stehen lassen, sondern dass sie Lust bekommen, mit diesem Reisebegleiter die Grenzgebiete neu zu entdecken.“
Die ersten beiden Bände von „Mitten am Rande: Gespräche mit Menschen, die dem Sudetenland ein neues Gesicht geben“ können unter Angabe von Lieferadresse und gewünschter Stückzahl per E-Mail an [email protected] zum Preis von 15 Euro bestellt werden. Der erste Teil, „Nordwest“, ist auch bei der Buchhandlung Kosmas bestellbar. Darüber hinaus kann der erste Band online kostenfrei eingesehen werden.