Lektüretipps für die freien Tage: Aktuelle Bücher über deutschsprachige Zeitungen in Böhmen und Tschechien
In den vergangenen Monaten sind zwei Bücher erschienen, die sich mit deutschsprachigen Zeitungen in der Tschechoslowakei und in Tschechien befassen. Die Geschichte der Reichenberger Zeitung sowie der Prager Zeitung werden dabei in ganz unterschiedlichen Ansätzen erzählt. Gemeinsam ist beiden Büchern jedoch, dass sie wichtige Einblicke in die Bedeutung und die Entwicklung jener Medien bieten, die sich vor allem – aber nicht nur – an die deutschsprachige Minderheit hierzulande richteten.
Regelmäßige Prag-Besucher könnten sich durchaus noch an sie erinnern: die Wochenzeitung mit dem blauen Schriftzug „Prager Zeitung“, die bis vor einigen Jahren an jedem Kiosk in der Innenstadt zu bekommen war. Aber nur wenige Leser wussten wahrscheinlich, dass die Tradition dieses deutschsprachigen Blattes bis ins 17. Jahrhundert zurückreichte. Klaus Hanisch, langjähriger Redakteur der Prager Zeitung (PZ), weiß zu berichten, dass die allererste Ausgabe am 24. November 1672 erschien. Ein Buchdrucker mit Namen Johann Arnoldt, der auf der Prager Kleinseite lebte, hatte dazu das Privileg erhalten…
„Das war noch keine Zeitung, wie man sie heute kennt. Sondern es waren Blätter, die unregelmäßig und ohne Bezug zueinander erschienen. Aber für Chronisten besteht kein Zweifel, dass durch dieses Privileg die erste regelmäßig in Prag erscheinende ‚Zeitung‘ entstand. Die Prager Zeitung lässt sich also darauf zurückdatieren. Von diesen ersten Exemplaren ist nichts mehr vorhanden. Ein Chronist hat dazu einmal sehr schön geschrieben, dass man damals Zeitungen wie Eintagsfliegen behandelt habe. Und bis heute gilt ja das Motto, dass nichts so alt sei wie die Zeitung von gestern. Das war im 17. Jahrhundert nicht viel anders.“
Hanisch schreibt darüber in seinem Buch „Prager Zeitung. 350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte“. Im Interview mit Radio Prag International führt er weiter aus:
„Mit dieser langen Geschichte gehört die Prager Zeitung tatsächlich zu den ältesten Medien weltweit. Das wurde mir auch erst bewusst, als ich 2016 den Auftrag bekam, den Aufmacher zum 25-jährigen Jubiläum der neuen Prager Zeitung zu schreiben. Ich begann zu recherchieren und bin auf Quellen gestoßen, die diese lange Geschichte aufzeigten. Etwa durch das Buch eines ehemaligen Chefredakteurs, der die PZ-Redaktion Anfang des 20. Jahrhunderts leitete. Oder durch einen Artikel in der Wiener Zeitung vom Februar 1905, geschrieben von dem renommierten österreichischen Journalisten Emil Löbl. Er beschäftigte sich sehr früh mit der Geschichte von Zeitungen und hat auch die lange Historie der Prager Zeitung in diesem Artikel bestätigt und kommentiert. Interessant ist in dem Zusammenhang außerdem, dass heutzutage oft das Prager Tagblatt als wichtigste deutschsprachige Zeitung in Prag für die Zeit vor den Kriegen bezeichnet wird. Tatsächlich ist die Prager Zeitung aber rund 200 Jahre älter als das Tagblatt.“
Damit sind zwei Titel genannt, die die deutschsprachige Medienlandschaft Böhmens im ausgehenden 19. Jahrhundert bis hinein in die 1918 gegründete Tschechoslowakische Republik prägten. Aber Deutsche lebten zu der Zeit nicht nur in der Hauptstadt, sondern vor allem auch im Sudetenland. In der Region Liberec / Reichenberg etwa wurde die Reichenberger Zeitung gelesen, die es seit 1860 gab. Mit ihr hat sich der Historiker Andreas Morgenstern näher beschäftigt. Er berichtet:
„Die Zeitungsstruktur war damals sehr vielfältig. Es gab noch kein Fernsehen und kein Internet, selbst das Radio steckte noch in den Kinderschuhen. Und so war die Tageszeitung das zentrale Informationsmedium der Zeit. Es gab sehr viele kleine Zeitungen, teils parteigebunden, aber zumeist lokal begrenzt. Die wirklich großen wie das Prager Tagblatt waren da sehr selten. Die Reichenberger Zeitung hatte im nordböhmischen Raum eine sehr große Bedeutung – dort, wo eben die deutsche Mehrheit lebte. Sie hatte auch eine sehr hohe Auflage, die Wochenendausgabe erreichte 70.000 Exemplare. Und so war die Reichenberger Zeitung eigentlich schon mehr als ein Provinzblatt, auch wenn sie in der sogenannten sudetendeutschen Provinz entstand.“
Sie sei eine gemäßigte Zeitung gewesen, ordnet Morgenstern ein, die für eine bürgerliche Leserschaft schrieb – und die die Lebenswelt der deutschen Minderheit widerspiegelte. In diese Einblick zu geben, ist Anliegen des Buches „Deutsche in der Tschechoslowakei. Die Berichterstattung der Reichenberger Zeitung 1932–1935“. Darin lässt sich zum Beispiel nachvollziehen, wie die Redaktion über die Kommunalwahlen schrieb, über den Bergarbeiterstreik 1932 oder über einen Überfall auf ein Fest deutscher Turner in Dux, heute Duchcov.
Warum es sich heute noch lohnt, diese 90 Jahre alten Artikel zu lesen, und warum Zeitungen für ihn eben keine Eintagsfliegen seien, erklärt Morgenstern so:
„Die Stärke von Tageszeitungen ist, dass sie von der Tagesaktualität leben. Sie zeigen also relativ ungefiltert den Alltag. Man kann auch sagen, nichts ist so spannend wie das Zeitunglesen von gestern. Es gab zentrale Ereignisse, die von der Reichenberger Zeitung länger, also länger als einen Tag, verfolgt wurden. Und für die Redakteure war es ja auch ergebnisoffen. Im Unterschied zu uns wussten sie nicht, wie es am Ende aussieht. Und das ist dann schon besonders interessant, denn solche Berichte über eine längere Zeit charakterisieren ein Medium doch sehr eindrücklich. Dies waren klassische Aufregerthemen in der Zeit – also Themen, über die gesprochen und über die diskutiert wurde.“
Dass sich Andreas Morgenstern in seinem Buch auf gerade einmal vier Jahre der insgesamt fast 80-jährigen Existenz der Reichenberger Zeitung konzentriert, hat seinen Ausführungen zufolge seine Gründe:
„Die Jahre zwischen 1932 und 1935 sind die Zeit zwischen der Weltwirtschaftskrise und der dann lange nachwirkenden Parlamentswahl von 1935. Im Prinzip sind das Scharnierjahre – durch die Wirtschaftskrise, aber auch durch den dann oftmals faszinierten Blick rüber ins dritte Reich nach Deutschland. Das stärkt den Nationalismus auch unter den Sudetendeutschen und führt dann eben zu einer vielfach freiwilligen Abkehr von der Demokratie, die allerdings 1935 längst noch nicht unumkehrbar ist.“
Aber der Weg Adolf Hitlers in die Tschechoslowakei wurde bereits geebnet. Aus den erwähnten Parlamentswahlen 1935 ging die Sudetendeutsche Partei unter Konrad Henlein mit mehr als 15 Prozent als stärkste Kraft hervor. Morgensterns Buch zeichnet nach, wie die Deutschen, die als größte Minderheit im Land zu der Zeit noch als „Gleiche unter Gleichen“ lebten, sich in ihrer Mehrheit langsam dem Nationalsozialismus zuwendeten.
Sprachrohre der deutschen Minderheit
Dort, wo Morgensterns Darstellungen zeitlich einsetzen, besteht in der Geschichte der Prager Zeitung bereits eine Lücke. Die letzten Ausgaben, die in der Nationalbibliothek im Prager Klementinum aufbewahrt werden, stammen aus der Zeit um das Ende des Ersten Weltkriegs herum, wie Klaus Hanisch berichtet. Sowieso widmet er sich in seinem Buch zum größten Teil der „neuen“ Prager Zeitung, wie er es selbst formuliert – also jenem Wochenblatt, das von 1991 bis 2016 bestand und für das Hanisch selbst geschrieben hat. Vergleichend sagt er:
„Für die alte Prager Zeitung gab es bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder Epochen, in denen sie stark beachtet wurde und journalistisches Gewicht hatte. Man darf nicht vergessen, dass damals vor ihrer Haustür in Prag und Böhmen noch deutsch gesprochen wurde. Deshalb war ihr Verkauf viel einfacher als ab 1991. Für die alte Prager Zeitung war es viel leichter, Aufmerksamkeit bei Lesern und Bürgern zu finden. Das war 1991, als die neue Prager Zeitung gegründet wurde, ganz anders. Da musste erst Aufmerksamkeit geschaffen werden, zumal für ein deutschsprachiges Medium, das im Ausland gedruckt und gemacht wurde. Doch dies ist sehr gut gelungen. Ich habe mich in den Jahren meiner Recherchen für das Buch gewundert, wie oft aus der Prager Zeitung zitiert wurde.“
Solche Verweise fänden sich in der Süddeutschen Zeitung, in der FAZ, im Spiegel oder auch in der Neuen Zürcher Zeitung fügt Hanisch hinzu. So habe die PZ einen wichtigen Markstein in der internationalen Medienlandschaft gesetzt, meint der Journalist aus Bayern.
Und wollte das Wochenblatt auch in Tschechien noch ein Sprachrohr für die deutsche Minderheit sein? Dazu Hanisch:
„Anfangs gab es schon eine enge Zusammenarbeit, wohl auch aus finanziellen Gründen. Aber im Laufe der Jahre wurde es immer mehr zu einem Anliegen von Uwe Müller – der die Zeitung 1991 gegründet hat und dann ihr Chefredakteur und später auch Geschäftsführer war –, nicht nur Angelegenheiten für eine Minderheit zu behandeln, sondern die gesamte Palette an Themen aus Prag und Ostmitteleuropa zu bearbeiten. Und das für einen möglichst großen und internationalen Leserkreis. Die Zeitung wurde vor allem in Deutschland gelesen – ebenso in Tschechien, aber eben auch in Österreich und der Schweiz. Teilweise gab es Resonanz aus Frankreich oder den Beneluxstaaten. In der Prager Zeitung wurde alles behandelt, von Politik über Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zu Sport und Kultur – alles jedoch bei stets knapper Seitenzahl und finanziell wie personell beschränkten Ressourcen.“
Finanzielle Nöte waren dann auch der Grund dafür, dass die Prager Zeitung zu Ende 2016 in ihrer Papierform eingestellt wurde. Damit war sie ein frühes Beispiel für einen Trend, der sich heute immer mehr verstärkt. Einige Jahre erschienen noch Artikel – zum größten Teil kostenlos von Klaus Hanisch verfasst – in der Onlineausgabe. Die Internetadresse, die den Titel der so traditionsträchtigen Zeitung bis dahin am Leben erhielt, ist aber seit einem Hackerangriff 2022 nicht mehr gültig.
Erkenntnisse für die Gegenwart
Auch viele Hörerinnen und Hörer von Radio Prag International dürften selbst irgendwann einmal eine gedruckte Prager Zeitung in der Hand gehalten haben. Allein diese persönlichen Erfahrungen könnten das Buch von Klaus Hanisch für sie interessant machen. Daneben erfährt man darin auch viel über die Entwicklung der Tschechoslowakei und Tschechiens in der Nachwendezeit.
Der Band über die Reichenberg Zeitung von Andreas Morgenstern geht da etwas weiter in der Geschichte zurück. Trotzdem sei es nicht nur ein Buch für die Wissenschaft, betont der Autor. Einen leichten Zugang findet die allgemein interessierte Leserschaft womöglich über das Vorwort, für das Morgenstern den bekannten tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudiš gewinnen konnte…
„Es war ganz klischeehaft, wie man sich das vorstellt. Rudiš stand in Dresden auf dem Bahnhof, wartete auf seinen Zug und dachte, das wäre ein schöner Moment zu telefonieren. Er war sofort begeistert, weil Reichenberg, Geschichte und Deutsche ja nun sein Leib- und Magenthema sind. Da war nicht viel Überzeugungsarbeit vonnöten.“
Mit seiner sehr persönlichen und ein wenig melancholischen Einleitung leistet Rudiš nun wiederum ein wenig Überzeugungsarbeit, dass das Buch zur Reichenberger Zeitung lesenswert ist. Und das nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in vielen Ländern Europas und weltweit. Bezüglich der potentiellen Leserschaft des Bandes sagt Morgenstern:
„Mir ging es um die Schilderung und die Begleitung des Alltags in der damals aufziehenden Katastrophe. Diese haben damals aber nur sehr aufmerksame Beobachter vorausgesehen, wie etwa der Reichenberger Bürgermeister Karl Kostka, den die Zeitung sehr geschätzt hat. Schreiben wollte ich das Buch aus dem Blickwinkel des normalen Bürgers von damals – des Lesers, für den die Reichenberger Zeitung das wichtigste, vielleicht auch das einzige Informationsmedium war. Und so wünsche ich mir natürlich auch den ganz normalen, interessierten Menschen heute als Leser. Im Buch kann man nachfühlen, wie das Misstrauen und so ein ständig gepflegtes Gefühl scheinbarer, vielleicht aber auch realer Benachteiligung die Akzeptanz von Demokratie aushöhlen konnte. Und ehrlich gesagt, das hat mich beim Schreiben auch manchmal an unsere Gegenwart erinnert.“
Und wenn die Demokratie in Gefahr ist, wächst die Bedeutung von überparteilichen, unabhängigen Medien. Dies ist auch ein Grund, warum Klaus Hanisch mit der Prager Zeitung noch nicht ganz abgeschlossen hat…
„Die Notwendigkeit für eine Prager Zeitung sehe ich heute noch ganz genauso wie 1991. Als der Krieg in der Ukraine im Februar 2022 ausbrach, wurde in Deutschland in vielen Diskussionsrunden herausgestellt, dass man viel zu wenige Informationen über die ost- und mitteleuropäischen Länder habe. Man hätte deren Ängste und Sorgen in den Jahren zuvor viel ernster nehmen müssen, wie auch ihre Erfahrungen mit Russland. Da sah man ein großes Informationsdefizit, und genau dieses hatte die Prager Zeitung über viele Jahre ausgefüllt. Deshalb wurde sie von den Medien in Deutschland, Holland, der Schweiz oder Österreich auch so beachtet. Ich glaube, dass die Notwendigkeit und die Zeit für eine Prager Zeitung längst noch nicht vorbei sind. Notwendig wäre ein Investor, der diese Notwendigkeit erkennt und an das Projekt einer deutschsprachigen Zeitung in Prag glaubt.“
Wichtige Informationen auf Deutsch zu liefern und damit zu einem besseren Verständnis der Vorgänge und Denkweisen in Tschechien bei den Nachbarn beizutragen, darum bemühe sich schließlich auch Radio Prag International, fügt Hanisch noch lobend hinzu.
Das Buch „Prager Zeitung. 350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte“ ist im Verlag Königshausen & Neumann erschienen, hat 304 Seiten und kostet 34,80 Euro. „Deutsche in der Tschechoslowakei. Die Berichterstattung der Reichenberger Zeitung 1932–1935“ von Andreas Morgenstern findet sich im Verlag Metropol, hat 272 Seiten und kostet 24 Euro.