19. Jahrhundert: Sudetendeutsche Auswanderungspioniere in Brasilien

Brasilien

Seit jeher gingen in Europa - aus welchen Gründen auch immer - mehr oder weniger massive Völkerwanderungen über die Bühne. Dieses Phänomen prägte nicht nur die Geschichte vieler Länder unseres Kontinents, sondern auch viele andere Teile der Welt. So war es auch im Falle Brasiliens, das Millionen von Zuwanderern in einen Schmelztiegel von verschiedenen Nationalitäten, Religionen und Kulturen verwandelten. Ihren Beitrag haben dazu auch viele Bewohner aus Mitteleuropa geleistet. Einen Einblick gibt dieser Tage eine Ausstellung, die unter dem Titel „Tschechische Spuren in Brasilien“ auf der Prager Burg eröffnet wurde.

Großformatige, in Tschechisch und Englisch verfasste Texttafeln, alte sowie neue Photos, historische Dokumente, Gegenstände der südamerikanischen Indianerkunst – all das bietet in dieser neuen Prager Ausstellung ein repräsentatives Bild der Auswanderung aus dem Gebiet des heutigen Tschechien nach Brasilien. Ihr zeitlicher Rahmen umfasst mehrere Jahrhunderte, wir werden aber diesmal „nur“ das 19. Jahrhundert in den Blick nehmen.

Es war in der Tat eine Völkerwanderung - im wahrsten Sinne des Wortes! Allein aus dem Seehafen von Hamburg machten sich im Zeitraum zwischen 1860 und den 1930er-Jahren nachzählbar rund fünf Millionen Menschen auf den Weg, einer neuen Zukunft in der „Neuen Welt“ entgegen. Unter ihnen waren auch viele Bewohner der böhmischen Länder und der späteren Tschechoslowakei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es hauptsächlich sudetendeutsche Auswanderer, die ihr Glück in Brasilien suchen wollten. Warum gerade sie und warum gerade dort?

Papst Alexander VI.
Hier zunächst ein paar Eckdaten: Schon zwei Jahre nach der Entdeckung Amerikas 1492 wurde der südamerikanische Kontinent von Papst Alexander VI. zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt. Sein östlicher Teil, in dem sich große Teile des heutigen Brasilien befanden, wurde Portugal zugesprochen. Bald danach begann die Kolonialisierung des Kontinents, die lange Zeit vor allem den beiden Mutterländern großen Reichtum einbrachte. Natürlich auf Kosten der angestammten Bevölkerung der Neuen Welt.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Forderungen nach Unabhängigkeit in Südamerika sehr stark. Am 22. September 1822 wurde das unabhängige Brasilien ausgerufen. Dazu sagt der Kunsthistoriker Pavel Štěpánek, Professor an der Palacký-Universität in Olomouc / Olmütz und einer der Macher der Prager Ausstellung:

Pavel Štěpánek
„Anfang des 19. Jahrhunderts war Brasilien das einzige lateinamerikanische Land, das sich auf einem friedlichen Weg selbständig gemacht hat. In den umliegenden Ländern hingegen kam es zu gewaltsamen Revolutionen und das konnte im Hause Habsburg in Wien natürlich nicht gut ankommen. Kanzler Metternich war daran interesiert, die Position der Donaumonarchie zu festigen, und war davon überzeugt, dass gerade Brasilien für ihre Zukunft mehr Chancen bringen könnte als etwa die kurz zuvor entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika.“

Klemens Wenzel Lothar Graf von Metternich
Klemens Wenzel Lothar Graf von Metternich, seinerzeit einer der führenden Staatsmänner in Europa, war damals österreichischer Außenminister. 1814 und 1815 spielte er auf dem Wiener Kongress eine führende Rolle bei der politischen und territorialen Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons. Die offiziellen Kontakte zwischen dem mitteleuropäischen Raum und Brasilien konnten 1817 aufgrund der Vermählung von Erzherzogin Leopoldine, Tochter des Kaisers Franz I. von Österreich, mit dem brasilianischen Kronprinzen Peter geknüpft werden. Dieser erklärte sich 1822 zum Kaiser Pedro I. von Brasilien.

Der hoch gebildeten Kaiserin Brasiliens Leopoldine werden zahlreiche Impulse zugeschrieben, deren Umsetzung sich für die weitere Entwicklung ihrer neuen Heimat als sehr nützlich erwies. Vor allem war es die nachhaltige Förderung der Auswanderung aus verschiedenen deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas. Davon kann auch Petr Polakovič viel berichten. Seit Jahren ist er auf der Suche nach den Spuren von aus Böhmen und Mähren stammenden Sudetendeutschen in Brasilien, unter denen auch seine eigenen Vorfahren waren darunter. Polakovič war ebenfalls am Zustandekommen der Ausstellung „Tschechische Spuren in Brasilien“ beteiligt.

Kaiserin Brasiliens Leopoldine
„Die ersten Auswanderergruppen aus Böhmen waren seit ungefähr 1860 zu verzeichnen. Damals haben es schon die Auswanderungsgesetze in der Habsburger-Monarchie ermöglicht. Die Erzherzogin Leopoldine hat nach ihrer Hochzeit womöglich vieles aus der traditionsreichen Monarchie nach Brasilien übertragen wollen. Darunter auch das – sagen wir – Know-how der Menschen in ihrem Herkunftsland, die über wertvolle Erfahrungen mit Handwerk und Landwirtschaft verfügten. Es gibt eindeutige Indizien, dass sie den Impuls zur Auswanderung ihrer Landsleute nach Brasilien gegeben hat.“

2004 wurde in Brasilien des 24. Juli 1824 gedacht. Offiziell gilt er als Stichtag für den Beginn der Auswanderung von Siedlern deutscher Sprache nach Brasilien. Obwohl Kaiserin Leopoldine 1829 im Alter von 29 Jahren starb, war das von ihr initiierte Emmigrationsprojekt nicht mehr zu stoppen. 1835 und noch einmal 1860 erschien in Böhmen ein aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzte Handbuch, das die Auswanderung nach Brasilien propagierte. Unter dem Titel „Vystěhovanci do Brasilie aneb Chaloupka Gigitonhonhy“ (Auswanderer nach Brasilien oder das Häuschen bei Gigitonhonhy) enthielt es praktische Ratschläge, wie man in dem fernen Land leben kann. Petr Polakovič:

Petr Polakovič
„Die ersten Auswanderungspioniere aus den böhmischen Ländern waren Sudetendeutsche aus dem Gebiet um Liberec / Reichenberg. Sie haben hier die Informationen über das Brasilien-Angebot offenbar als erste erhalten. Es gab zum Beispiel Agenten, die in der Region Werbung machten. Später kamen auch Briefe von den ersten Auswanderern, die ihren Familienangehörigen oder Bekannten bestätigten, dass man in Brasilien tatsächlich Boden bekommen kann. Ich persönlich weiß über meine Vorfahren, dass sie in Nordböhmen nur etwa sechs Hektar Boden bewirtschafteten. Die Chance, 50 Hektar - später waren es nur mehr 25 - zu bekommen, war also für viele sehr verlockend. Das war auch ein Grund, warum viele nach Brasilien und nicht in die USA emigrierten.“

Deutsche Kolonien in Südbrasilien 1905
Für die erste Siedlergeneration in Brasilien war das Leben trotz vorhandener Möglichkeiten hart. Der brasilianische Staat kümmerte sich damals nicht um sie, und so hing alles von der Eigeninitiative der einzelnen Menschen und der jeweiligen Siedlergemeinschaft ab. Aber auch noch von einem anderen Faktor: dem Wetter. Petr Polakovič:

„Wenn einige Siedlergruppen zum Beispiel in das nördlich gelegene Gebiet von Bahia gingen, scheiterten sie oft, denn das Klima war dort für sie zu heiß. Viel angenehmer war es aus dieser Sicht im Süden, in den Regionen von Rio Grande do Sul oder San Catharina. Das konnte man aber schon vorher aus Briefen ihrer Verwandten erfahren, die es als erste wagten auszuwandern. Es gab also nicht extrem viel zu befürchten. Durch Agenten aus Hamburg konnte man auch eine Art Vorkaufsvertrag unterzeichnen. Auch dadurch verringerte sich das Risiko eines Betrugs.“

Ausstellung „Tschechische Spuren in Brasilien“
Eine größere Auswanderungswelle aus Böhmen nach Brasilien begann erst um das Jahr 1860. Zu diesem Zeitpunkt konnte man schon über verschiedene relevante Informationen aus dem fernen Land verfügen. Was hat Petr Polakovič bei seiner Erforschung des Lebens der sudetendeutschen Siedler in Brasilien erfahren?

„Ihre Lebensbedingungen waren bestimmt hart. Man hat dort zwar ein Grundstück von 50 Hektar bekommen, doch oft war es ein Urwald. Den musste man roden. Doch wo sollte man dafür das Werkzeug hernehmen? Auf der anderen Seite gab es auch Gründe zur Freude. Dank des warmen Klimas war es möglich, Tabak und später auch Reis anzubauen. Günstig war aber auch der Anbau von Kartoffeln, den sie aus dem Isergebirge kannten. In den alten Briefen gibt es begeisterte Äußerungen zu lesen wie: ´Sag der Fanny, ihr solltet kommen. Wir hatten jetzt Ernte und werden gleich wieder eine neue Saat ausbringen´.“

Im Isergebirge oder auch im Böhmerwald lag der Schnee in der Regel ein halbes Jahr lang. In Brasilien konnte man aber mehr als nur eine Ernte im Jahr haben. Daher die Begeisterung.


Im Jahr 2012 plant Petr Polakovič ein Museum sudetendeutscher Auswanderer in der Nähe von Ralsko zu eröffnen. Darüber erfahren Sie mehr in einer der nächsten Ausgaben des Kapitels aus der Tschechischen Geschichte.