90 Jahre Groß-Prag: 1922 entstand die moderne Großstadt

Viele Leute kennen Prag als eine Stadt, die bereits seit dem Mittelalter existiert. In Reiseführern wird oft auf die facettenreiche Geschichte der Stadt im Laufe der Jahrhunderte hingewiesen. Das moderne Prag aber, so wie es heute aussieht, gibt es offiziell erst seit 1922, also seit genau 90 Jahren. Damals kam es zu einer Verwaltungsreform, die aus der Agglomeration Prag das vereinigte Groß-Prag machte.

Streift man durch Prag, hat man oft den Eindruck, durch eine kleine, mittelalterliche Stadt zu laufen, die seit Ewigkeiten existiert und sich nicht oder nur wenig verändert hat. Nun ist Prag natürlich auch eine große, moderne europäische Hauptstadt, in der das Geschäftsleben pulsiert und die nahezu 1,3 Millionen Menschen ein Dach über dem Kopf bietet. Lange aber bestand Prag selbst nur aus den alten historischen Stadtteilen Staré Město / Altstadt, Nové Město / Neustadt, Malá Strana / Kleinseite, Hradčany / Burg und Josefov / Josefstadt. Erst nach der Gründung der Tschechoslowakei gelang es den Stadtvätern, die Vorstädte mit der Kernstadt zu vereinen. Jiří Pešek, Archivar und Historiker, Professor an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität, erzählt, wann es die ersten Einigungsversuche gab:

„Die wichtigste Vereinigung der Prager Städte fand schon 1784 statt, als Josef II. die unabhängigen Prager Städte zu einem Ganzen vereinigte.“

Stadtplan Prag  (1922)
Allerdings entwickelte sich das Umland Prags schnell weiter. Daher entstanden nicht lange nach dieser ersten Vereinigung neue Ansiedlungen. Jiří Pešek:

„Um 1810 entstanden die selbstständigen vorstädtischen Gemeinden Smíchov und Karlín (Karolinenthal) und dann, im Laufe des 19. Jahrhunderts, entstanden immer mehr Gemeinden, die den Status einer selbstständigen Stadt erhalten hatten. So verwandelte sich Prag in eine Agglomeration, in der die alten historischen Städte nur den Kern darstellten.“

Die verantwortlichen Stadtväter waren sich durchaus bewusst, dass eine solche Ansammlung von Städten dicht nebeneinander auch große Probleme mit sich brachte. Denn wollte eine Stadt auch wirtschaftlich prosperieren, so war eine funktionierende Infrastruktur nötig. Der erste große Versuch, die Prager Agglomeration zu vereinigen, wurde daher 1881 gestartet. Ihm folgten 20 Jahre mit politischen und verwaltungstechnischen Bemühungen, die Vereinigung voranzutreiben. Warum es aber noch länger dauerte, weiß Professor Pešek:

Stadtplan Prag  (1784 - 1988)
„Die Bemühungen sind immer wieder am hartnäckigen Widerstand der Vorstädte gescheitert, weil natürlich die Eliten dieser kleinen Städte wussten, dass sie nur einen kleinen Stuhl im Stadtrat im Rathaus des Altstädter Rings bekommen würden, sollten sie eingegliedert werden. Und der Einfluss und die Kontrolle auf Investitionen und Bauaufträge wäre auf die Mächtigen aus der Innenstadt übergegangen.“

Trotzdem wurde die Idee einer vereinigten Stadt weiter verfolgt, vor allem vom alten Prag. Die treibende Kraft dazu waren das weitere Wachstum des Großraums und die damit verbundenen Probleme:

Prag  (1911)
„Es gab eine Menge praktischer Probleme, weil eine moderne Stadt natürlich eine Menge Institutionen und Betriebe braucht, die in den dicht besiedelten Gebieten der Stadt nicht stehen können. Dazu gehören zum Beispiel ein Gasometer oder ein Infektionskrankenhaus. Das musste Prag dann natürlich auf den Gebieten der anderen Gemeinden bauen.“

Damit ging wiederum eine Reihe von Problemen einher, schließlich mussten Eigentumsrechte geklärt und Steuerabgaben festgelegt werden. Die Steuern waren aber gerade in den Vorstädten billiger, weshalb vor allem die Industrie und die großen Energieproduzenten dorthin auswichen. Aber nicht nur die Industrie ging an den Stadtrand:

„Es bedeutete aber auch, dass es sich lohnte, neue Wohnhäuser außerhalb der Innenstadt zu bauen, eben weil die Besteuerung niedriger war. In dieser Zeit ist Prag ungefähr wie San Francisco gewachsen. Im Frühling eines Jahres konnte man noch die Felder sehen, im nächsten Frühling waren schon Häuser dort.“

Mit mehr Wohnungen in den umliegenden Gemeinden stieg aber auch das Bedürfnis nach mehr Infrastruktur, vor allem weil die meisten Schüler in der Innenstadt zur Schule gingen. Gerade der öffentliche Verkehr, wie zum Beispiel eine Straßenbahnlinie, aber waren teuer. Unter diesem Druck gelang es dann allmählich, gegen den Widerstand der Kommunalpolitiker der Vorstädte, die Einigung voranzutreiben:

„Im Jahr 1883 ist es gelungen, die Gemeinde Vyšehrad einzugliedern. Man hat immer das Gefühl, dass gehört schon immer zum Kern der Stadt, aber das war bereits hinter der Stadtgrenze.“

Der größte Schritt allerdings konnte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht werden:

„Das war das absolut wichtigste: 1901 wurde Libeň eingemeindet. Das öffnete Möglichkeiten für die Entwicklung der Industrie und des Verkehrs. Es wurde ein großer Industriehafen gebaut, denn Prag musste einfach expandieren, um den Ansprüchen der Zeit gerecht zu werden.“

Danach ging es schneller voran. Meistens wurde die Eigenständigkeit gegen Geld aufgegeben. Die Gemeinden hatten finanzielle Probleme und Prag bot ihnen an, die Schulden zu übernehmen und Investitionen zu tätigen, also Schulen, Gemeindehäuser und Straßenbahnen zu bauen. Es kam dann zu einer Reihe von Vereinigungsverträgen in den Jahren 1908 bis 1911. Nur der heutige Stadtteil Vinohrady, die Königlichen Weinberge, weigerte sich, weil Oberbürgermeister Alois Bureš ein Gegner der Vereinigung war. Historiker Pešek erklärt, warum es aber trotzdem nicht zu einer offiziellen Vereinigung kam:

„Diese Verträge sollten als Gesetze durch den böhmischen Landtag bestätigt werden. Der Landtag aber wurde von 1908 bis zum Ersten Weltkrieg durch die Obstruktion der deutschen Abgeordneten blockiert. Daher gab es keine gesetzliche Bestätigung der Einigungsverträge.“

Die Gemeinden arbeiteten aber auch ohne gesetzliche Bestätigung eng zusammen. Besonders während der schwierigen Zeiten des Ersten Weltkriegs bewährte sich die Zusammenarbeit, denn es brauchte eine zentralisierte Verwaltung, um eine solche große Stadt durch Hunger, Kälte und Epidemien zu bringen.

Als sich danach die Tschechoslowakei für unabhängig erklärte, waren dann auch der Stadtteil Vinohrady und sein Bürgermeister Bureš bereit, ein Teil von Groß-Prag zu werden. Professor Pešek räumt hier noch mit einem Mythos auf, der sich manchmal in Reiseführern findet:

„Die Wiener Regierung hat die Agglomeration Prag immer pragmatisch unterstützt und hat den ganzen Einigungsprozess rein finanziell, sanitärtechnisch und bautechnisch betrachtet. Es gab keine Obstruktion aus Wien.“

Die Zersplitterung der Stadt Prag war also nicht dem Versuch der Monarchie geschuldet, die Stadt Prag kleiner als die Hauptstadt Wien zu halten. 1920 wurde dann die endgültige Vereinigung beschlossen und die Reform trat zum 1. Januar 1922 in Kraft. Das neue Groß-Prag wurde aus 37 ehemaligen eigenständigen Gemeinden gebildet und hatte 676.000 Einwohner auf einer Gesamtfläche von 17.164 Hektar. Aber das war natürlich nicht das Ende:

Stadtteil Žižkov  (1915)
„Also die Gründung des neuen Groß-Prags, dass war auch ein Ausdruck, dass die neue Republik nun eine neue Hauptstadt hat. Alles konzentrierte sich nun in der Stadt, auch die industriellen Betriebe hatten nun ihre Zentralen in die Stadt verlagert. Die Stadt expandierte dann in einem gigantischen Tempo, und dass, obwohl der neue Staat die Stadt gar nicht so verhätschelte, wie es der alte österreichische Staat getan hatte.“

Die Vereinigung hatte natürlich auch noch Nachwirkungen: Stromleitungen und Wasserleitungen mussten zusammengelegt werden und aus 37 Einzelgemeinden eine moderne Stadt geschaffen werden. Diese Arbeit übernahm im Jahr 1922 eine staatliche Regulierungskommission, die auch unangenehme Entscheidungen treffen musste: Schließlich gab es in Groß-Prag nun 37 Palacký- oder Havlíček-Straßen – und das hatte für viele Stadtteile traurige Entscheidungen zur Folge.

Auch heute wächst die Stadt weiter. In der kommunistischen Zeit entstanden die Plattenbausiedlungen, wie zum Beispiel die Südstadt (Jižní Město) oder Prosek. Gegenwärtig werden an den Stadträndern immer mehr Einfamilienhaussiedlungen gebaut – ein Ausdruck des wachsenden Wohlstands der Prager Bevölkerung.