Abschied von Böhmen: Die Flucht des Wenzel Jaksch

Wenzel Jaksch

Dieser Tage wandert eine kleine Reisegruppe durch die ostböhmischen Beskiden in Richtung Polen. Ihre Reise über die Berge ist auch eine Reise in die Vergangenheit. Die Geschwister Mary und Georg Jaksch sind hier unterwegs auf den Spuren ihres Vaters Wenzel, begleitet von Familie und Freunden. Der sudetendeutsche Sozialdemokrat Wenzel Jaksch war im März 1939 vor den Nazis über die Beskiden nach Polen geflohen, und von dort weiter nach Großbritannien. Seinen Weg kann man heute noch recht gut nachvollziehen, weil er ihn selbst schriftlich festgehalten hat in seinem Text „Abschied von Böhmen“. Gerald Schubert hat Mary und Georg Jaksch am Anfang ihrer Spurensuche in Prag getroffen.

Georg Jaksch wurde im Dezember 1945 in Großbritannien geboren, Mary zwei Jahre später. Georg lebt heute in Antwerpen und kümmert sich in einem internationalen Unternehmen um die Bereiche Umwelt und soziale Verantwortung. Mary lebt als Schriftstellerin in Neuseeland. Die Erinnerung an ihren Vater Wenzel Jaksch hat beide nach Tschechien geführt. Auch ins Studio von Radio Prag, wo wir im Archiv alte Rundfunkaufnahmen des sudetendeutschen sozialdemokratischen Politikers gefunden haben. Zum Beispiel eine Rede vom 16. September 1938, also aufgenommen ein Jahr vor Kriegsbeginn und nur zwei Wochen vor dem Münchner Abkommen, als der Nationalitätenkonflikt zwischen Sudetendeutschen und Tschechen bereits überzukochen drohte. Hier ein Auszug:

Münchner Abkommen | Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R69173/Wikimedia Commons,  CC BY-SA 1.0
„Das Gebot der Stunde ist Besinnung. Lassen wir uns nicht einreden, dass das eine Volk nur aus Teufeln besteht und das andere nur aus Engeln. Ob uns eine deutsche oder eine tschechische Mutter geboren hat – vergessen wir nicht, dass wir auch Menschen sind!“

Eindringliche Worte zu einer Zeit, in der Europa bereits auf den Abgrund zusteuerte. Die politische Sprache von damals mag heute vielleicht oft pathetisch klingen. Was empfindet Georg Jaksch, wenn er die 73 Jahre alte Aufnahme seines Vaters heute hört?

Mary und Georg Jaksch  (Foto: Gerald Schubert)
„Sicher war er ein Mensch mit tiefen Überzeugungen, einer sehr ausgeprägten persönlichen Verantwortung und Ethik gegenüber seinen Mitmenschen. Ich denke, wenn man ihn hört, dann spürt man diese tiefe Überzeugung, die hinter seinen Worten steht. Wenn wir unsere Politiker heutzutage anhören, dann geht es oftmals um relativ sekundäre, kleine Dinge, die für zukünftige Generationen von wenig Interesse sind. Ich denke, Pathos, Emotionen und Überzeugungen haben ihren Platz in der Politik. Und vielleicht sollten sie noch mehr Platz haben.“

Wenzel Jaksch  (Foto: Archiv der sozialen Demokratie)
Wenzel Jaksch 1938 in seiner Rede weiter:

„So oder so müssen endlich die Formen eines ehrenvollen, friedlichen Zusammenlebens der Nationen gefunden werden. Nicht nur bei uns im Lande, sondern in ganz Europa. Die Blicke einer besorgten Welt sind auf unser unglückliches Grenzland gerichtet. Wird hier die Flamme eines neuen Weltbrandes zuerst aufzüngeln oder wird von uns aus eine Botschaft des Friedens durch die Länder gehen? Das ist die bange Frage, die auf aller Lippen schwebt. An uns liegt es, sie zu beantworten.“

Plakette zum Sudetendeutschen Tag in 1968,  Jaksch in der Mitte
„Was mir aufgefallen ist: Diese Passion verbinde ich sehr stark mit der Erinnerung an meinen Vater“, sagt Mary Jaksch. „Er war ein passionierter Mensch, und ich denke, dass er das auch an uns weitergegeben hat. Georg und ich, wir sind beide sehr passioniert bei dem, was wir machen. Er war wirklich mit Leib und Seele dabei. Ich erinnere mich, wie es war, wenn wir auf Urlaub fuhren: Wir saßen am Strand in Italien, doch er saß auf einem Stuhl und schrieb. Er war immer dabei, darüber nachzudenken, wie man die Zukunft anders gestalten könnte. Er fühlte sich verantwortlich. Nicht nur für sich, sondern für die Welt.“

Die beschwörenden Schlussworte von Wenzel Jakschs Rede aus dem Jahr 1938 scheinen Mary heute Recht zu geben:

Geburtshaus Jakschs  (ganz rechts) in Dlouhá Stropnice / Langstrobnitz
„Welch ein Segen für das Land, wenn es gelänge, es zum Ausgangspunkt einer neuen Epoche des europäischen Friedens zu machen. Der Schlüssel dazu liegt in unserer Hand. Wo ein Wille, da ein Weg.“

Wenzel Jaksch wurde 1896 in Südböhmen geboren. Bereits in jungen Jahren war er Redakteur der Zeitung „Sozialdemokrat“ und schloss sich der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) an. Ab 1929 war er Abgeordneter im tschechoslowakischen Parlament, 1938 wurde er der letzte Vorsitzende der DSAP. Als im März 1939 die Deutschen in Prag einmarschierten, begann für Jaksch die abenteuerliche Flucht, die er später in seinem Bericht „Abschied aus Böhmen“ festgehalten hat.

„Es war am 14. März, 8 Uhr abends. Mein Arbeitszimmer in der Redaktion des ‚Sozialdemokrat’ in der Fochova war aufgeräumt, die Schubladen offen, sogar der Papierkorb geleert; niemand sollte durch einen zurückgelassenen Brief oder Zettel gefährdet werden. Der letzte Akt des Dramas der sudetendeutschen Arbeiterbewegung hatte den Tag ausgefüllt. Wir wussten, dass Hitler im Begriffe war, seine Hand nach Prag auszustrecken.“

Die erste Station der Flucht: Die britische Botschaft in Prag.

„Ich versuchte zunächst, auf der roten Plüschbank des Ballsaales meinen Schlaf nachzuholen, doch bald wurde ich wieder geweckt. Der Hausherr, Gesandter Newton, stand vor mir und lud mich, den ungebetenen Gast, zum Abendessen ein...Die Engländer wissen die gesellschaftlichen Formen zu wahren, auch wenn welterschütternde Ereignisse im Gange sind. Vor dem Abendessen wurden noch Pläne erörtert. (…) Am Abend leuchtete die Fensterflucht der Prager Burg hell auf. Hitler feierte dort seinen letzten unblutigen Sieg durch einen Empfang. Kaum hundert Meter trennten uns – welch’ Kontrast!“

Wahlplakat der sudetendeutschen Sozialdemokraten  (1936)
Auch Mary und Georg Jaksch haben die britische Botschaft besucht, den Ausgangspunkt der wohl wichtigsten Reise ihres Vaters. Mary Jaksch:

„Als ich heute in der Botschaft war, fühlte ich doch die Emotionen hochkommen. Zum Beispiel eine ganz simple Sache, wie die Treppen hochzugehen, die mein Vater betreten hatte – das war enorm. Wenn man das physisch nachvollzieht, hat man ein ganz anderes Erlebnis, als wenn man es nur liest. Es ist eine großartige Sache, und ich denke, unser Leben wird bereichert sein dadurch.“

Nach einigen Tagen konnte sich Wenzel Jaksch als Monteur verkleidet aus der britischen Botschaft schleichen. In der Wohnung eines Freundes verkleidete er sich abermals. Diesmal als Skitourist. Er traf Freunde, Helfer, Reisegefährten. Der Plan: Als Wintersportler getarnt wollte die Gruppe den Weg über die Beskiden ins noch freie Polen finden. Zunächst stiegen Jaksch und seine Freunde in Prag in den Zug:

„Als wir schon hofften, in unserem Wagen ziemlich allein zu sein, kamen noch 6 gestiefelte Herren mit Aktentaschen und Kleingepäck auf den Bahnsteig, steuerten geradewegs auf unseren Wagen zu und füllten das Abteil nebenan. War es Gestapo, waren es Parteifunktionäre? Auf jeden Fall gehörten sie zur triumphierenden Seite. Schon bei der Annäherung dieser unangenehmen Reisegenossen begannen wir die vereinbarte Komödie gut gelaunter Wintersportler zu spielen. Aus den Rucksäcken kramten wir umständlich Orangen, Schinkenbrote und Schnapsflaschen hervor. Banale tschechische Redensarten Karels beantworteten wir mit schallendem Gelächter (das manchmal etwas rauh aus der Kehle kam).“

Gestapo
In diesen Stunden ging es ums nackte Überleben. Leicht gefallen ist seinem Vater der Abschied aus Böhmen dennoch nicht, weiß Georg Jaksch.

„Gerade wenn wir den Titel seines Berichts sehen, ‚Abschied von Böhmen’, dann wissen wir aus unserer eigenen Erfahrung, welch tiefe Liebe er für dieses Land verspürte. Wie er oft in stillen Momenten über diese Jugenderfahrungen in Böhmen nachdachte und wie ihn das immer sehr bewegte. Wir, als Menschen unserer Zeit, die in vielen Ländern gelebt haben, haben diese tiefe Verwurzelung nie so kennen gelernt wie die damaligen Sudetendeutschen bzw. die deutschen Einwohner in Böhmen.“

Die letzten Kilometer in Böhmen, die legten Wenzel Jaksch und seine Gefährten über tief verschneites Gebiet auf Skiern zurück.

„Auf der Passhöhe war ein Gasthaus, von dem aus unser Weg eingesehen werden konnte. Kminek befürchtete, dass dort eine SS-Abteilung stationiert sei. Wir schlugen vor, er möge zur Erkundung vorausfahren, während wir, gedeckt in einer Schneemulde, warteten. Von dieser Mulde aus sahen wir Lastwagen mit deutschen Soldaten in Richtung Slowakei durchfahren. Einige winkten uns zu. Vielleicht waren es auch Wintersportler, die sich sagten, „wie schön haben es doch die Tschechen!“ – Kminek kam auf Umwegen ziemlich verstört zurück. Im Gasthaus sei SS stationiert, berichtete er. Es blieb nur übrig, in respektvoller Entfernung die Vorbeifahrt zu wagen. Wir fuhren in lockerer Formation los. Die bunte Zusammensetzung unserer Gruppe schien diesmal ein Vorteil zu sein. Zwei Frauen mit leuchtenden Pullovern, zwei Uniformierte und einige gepäcklose Männer - das sah sehr nach einer harmlosen Geländefahrt aus.“

Mährisch-Schlesische Beskiden
„Wenn ich diesen Text lese, dann habe ich das Gefühl, zurückreisen zu können in eine Zeit, die ich gar nicht selbst erlebt habe, aber die bestimmend war – nicht nur für das Leben meines Vaters, sondern auch für mein Leben. Es ist, als ob ich meine Wurzeln zum ersten Mal richtig spüren kann“, sagt Mary Jaksch, kurz bevor sie sich selbst aufmacht in die ostmährischen Beskiden.

Die polnische Grenze verläuft heute nicht mehr genau da, wo sie 1939 verlief. Der Weg von Georg und Mary soll aber der gleiche sein wie der ihres Vaters.

„Die Müdigkeit der letzten Tage machte sich fühlbar. (…) In unserer Gruppe war nun Sacher das schwächste Glied geworden. Er bekam Herzbeschwerden und war nahe daran, schlapp zu machen. Sobald wir uns wieder ein Stück hinaufgearbeitet hatten, hörten wir von unten seine flehende Stimme, ihn nicht zurückzulassen. Die Situation wurde immer qualvoller. Wir wussten, dass die polnische Grenze schon sehr nahe war und kamen immer langsamer vorwärts. Sollte all die Anstrengung dieser Grenzfahrt im letzten Augenblick zuschanden werden? Zwei Grenzposten, die unserer frischen Fahrtspur gefolgt wären, hätten uns spielend einholen können. Doch die Götter waren uns gnädig. Nachdem wir den Kamm erreicht hatten, fuhren wir noch ein Stück in den dichten Wald hinein. Dann streifte der Führer die Schneerinde von einer Fichte, zeigte uns eine markierte Stelle am Stamm und sagte: Hier ist Polen.“

Wenzel Jaksch
Wenn Georg und Mary Jaksch nun den Fluchtweg ihres Vaters nachgehen, dann sehen sie in der Erinnerung mehr als bloß eine Familiensache. Georg Jaksch:

„Diese Reise ist nicht irgendein individuelles Erlebnis, sondern sie steht für das Leben und das Drama und die tragischen Ereignisse, die so viele Menschen damals erlebt haben. Doch innerhalb dieser Tragik ist es für uns sehr wertvoll zu sehen, wie unser Vater sich für seine Mitmenschen eingesetzt hat. Er hat seine persönlichen Belange zurückgelassen und nur an seine Leute gedacht. Er äußert sich dazu auch in seinem Bericht. Ich denke, diese Hingabe anderen Menschen gegenüber, die ihm nahe standen, ist auch ein Modell für uns in unserer heutigen Zeit.“

Jaksch-Grab in Wiesbaden
Die Familie Jaksch ging 1949 von Großbritannien nach Deutschland. 1953 wurde Wenzel Jaksch Bundestagsabgeordneter der SPD, später Präsident des Bundes der Vertriebenen. Er habe sich stets für die Aussöhnung von Deutschen und Tschechen eingesetzt, sagen seine Kinder, und früh den Traum eines geeinten Europa geträumt. Wenzel Jaksch starb 1966 bei einem Verkehrsunfall.