Ahnenforschung in Tschechien – Nicht nur ein Hobby für Rentner
Die Bedeutung der Genealogie, also der Ahnenforschung, als historische Hilfswissenschaft wächst in Tschechien. Immer mehr Studenten besuchen Archive, um für Seminararbeiten Familienstammbäume zu erstellen. In den Archiven treffen sie aber auch viele Privatleute, denn auch die Genealogie als Freizeitbeschäftigung erfreut sich in Tschechien immer größerer Beliebtheit.
„Wenn ich nach Frankreich fahre, kann ich sagen, ich fahre nach Hause“, scherzt Luboš Hamouz, ein waschechter Tscheche aus dem mittelböhmischen Kladno.
„Wir haben im Archiv nach dem Ursprung unseres Familiennamens Hamouz gesucht. Er stammt von einem französischen Soldaten mit dem Namen d’Amos, der im Dreißigjährigen Krieg für den habsburgischen Kaiser gekämpft hat. Für seine Dienste erhielt er einen niederen Adelstitel und eine Grundherrschaft in der Nähe von Kladno. Er hatte viele Söhne, die auch wiederum viele Nachkommen hatten. Der in Tschechien ungewöhnliche Name Hamouz ist daher in unserer Gegend recht häufig. Das sind also eigentlich alles Verwandte.“
Luboš Hamouz war im vergangenen Jahr einer von etwa 1200 Besuchern des Staatlichen Gebietsarchives in Prag, das die Region Mittelböhmen abdeckt. Insgesamt sieben solcher Gebietsarchive gibt es in Tschechien. Sie sind die erste Anlaufstelle für Ahnenforscher, denn den größten Anteil ihrer Bestände nehmen historische Kirchenbücher ein. Darin sind Geburts- und Sterbedaten, Eheschließungen und manchmal sogar Gefängnisstrafen und Ähnliches festgehalten. Aufgaben, die heute Einwohnermeldeämter ausfüllen, lagen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in der Kompetenz der Pfarreien. In den letzten Jahren wächst in Tschechien das Interesse an den historischen Dokumenten, sagt Vladimíra Hradecká, Leiterin der Abteilung für das nationale Erbe im Gebietsarchiv Prag:„Es kommen wirklich alle möglichen Leute. Früher waren das eher ältere Menschen, die einen Familienstammbaum erstellen wollten und sich dem Hobby erst in der Rente widmeten. Heute kommen auch viele Leute im so genannten ‚produktiven Alter’, die sich entweder nach Feierabend zwei Stunden Zeit nehmen oder sogar Urlaub für die Suche opfern. Die sitzen hier wirklich neun Stunden und gehen nur ab und zu aufs Klo oder eine Kleinigkeit essen. Aber sie arbeiten und arbeiten, weil sie von der Suche völlig ergriffen sind.“
Doch nur wenigen dieser Laien-Genealogen gelingt es, wie Luboš Hamouz, die Familienwurzeln bis ins 17. Jahrhundert (zum Dreißigjährigen Krieg) zurück zu verfolgen. Die Motivation ist meistens auch wesentlich bescheidener. Ein häufiger Anlass für die Recherche sei ein runder Geburtstag in der Familie, erzählt Hradecká. Das Geschenk soll ein Familienstammbaum sein, und aus der einmaligen Forschung im Archiv werde dann oft ein Hobby.
Mittelböhmen ist der einzige tschechische Kreis, der nicht an ein Nachbarland grenzt. Die Gegend ist daher historisch nicht so stark von sprachlicher Vielfalt geprägt, wie andere Regionen in Tschechien. Eine Ausnahme bildet nur die Hauptstadt Prag, für die aber ein eigenes Archiv zuständig ist. Deshalb kommen vergleichsweise wenige Ausländer zur Ahnenforschung in ihr Archiv, erzählt Vladimíra Hradecká. Und wenn, dann seien es meist Amerikaner.
Im Partnerarchiv im nordböhmischen Litoměřice / Leitmeritz hingegen stellen Ausländer, überwiegend Deutsche, mehr als 10 Prozent der Besucher. Die Entwicklung bei den tschechischen Freizeitforschern gelte auch für die ausländischen Besucher, bestätigt die Leitmeritzer Archivarin Jana Vanišová:
„Ein neuer Trend zur Ahnenforschung ist vor allem bei den jüngeren Leuten zu verzeichnen. In den letzten fünf bis zehn Jahren hat ihr Interesse einen neuen Höhepunkt erreicht. Manche kommen mehrmals im Jahr und nehmen sich dafür auch Urlaub, eine Woche im Sommer, eine Woche im Winter. Die Suche nach den Vorfahren ist für viele ein großes Hobby geworden. Und natürlich kommen nach wie vor die Laien-Genealogen, die sich ihrer Forschung in der Rente widmen.“
Im Gebietsarchiv Leitmeritz lagern die Kirchenbücher der Kreise Ústí nad Labem / Aussig und Liberec / Reichenberg. Große Teile dieser nordböhmischen Kreise waren bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend deutsch besiedelt. Folglich sind die meisten der historischen Dokumente in Leitmeritz in deutscher Sprache. Für deutsch sprechende Forscher bedeutet das jedoch nur bedingt eine Erleichterung, sagt Vanišová:
„Ein Problem ist oft die altdeutsche Kurrentschrift. Aber wir geben den Leuten dann Schriftmuster oder sie suchen sich die Muster selbst im Internet. Viele haben sich aber schon zu Hause mit den alten Schriften beschäftigt und kommen gut vorbereitet ins Archiv. Denen geben wir dann lediglich eine Einführung in die Archivsuche, und den Rest erledigen sie weitgehend selbstständig. Unser ältestes Kirchenbuch – aus der Stadt Kadaň – stammt aus dem Jahr 1562. Viele weitere sind aus dem 16. Jahrhundert. Bei diesen ältesten Kirchenbüchern sind dann auch Lateinkenntnisse gefragt. Wenn die Hobbyforscher dann wirklich nicht mehr weiter wissen, nehmen sie oft die Hilfe von professionellen Genealogen in Anspruch, die dann den Familienstammbaum vervollständigen.“
Neben der Arbeit für Behörden oder auch für biographische Nachschlagewerke bedeutet der Boom der Ahnenforschung unter Privatleuten – Tschechen wie Ausländern – für diese professionellen Genealogen ganz bestimmt ein einträgliches Geschäft, glaubt Vanišová.
Ihre Kollegin Vladmíra Hradecká im Prager Gebietsarchiv scheut sich zwar von einem völlig neuen Trend zur Ahnenforschung zu sprechen. Denn es habe schon immer sehr viele Hobbygenealogen gegeben. Das wachsende Interesse in den letzten Jahren sei aber auffällig – abzulesen gerade auch an der steigenden Zahl jüngerer Leute, die den Weg in die Archive finden. Gründe kann Hradecká nur vermuten:
„Vielleicht bringt das unser technisches Zeitalter mit sich. Es gibt eine Tendenz, die eigenen Wurzeln zu idealisieren. Die Leute sagen, sie beneiden ihre Ahnen, in einer angeblich ruhigen Zeit gelebt zu haben. Aber wenn sie in die Suche eintauchen, erfahren Sie zum Beispiel etwas über die bittere Armut, in der ihre Vorfahren lebten, oder die hohe Säuglingssterblichkeit vergangener Zeiten.“
Auch wenn die Hobbyforscher ihre idealisierten Vorstellungen von der Vergangenheit ablegen - das Interesse für die Genealogie ist geweckt. So war es auch bei Luboš Hamouz. Nachdem er die französische Herkunft seines Nachnamens kannte, wollte der Mittfünfziger noch eine weitere Unbekannte der Familiengeschichte ans Tageslicht bringen:
„Unser Vater wurde unehelich geboren, und wir wussten einfach nicht, wer unser leiblicher Großvater war. Aber mit den Informationen, die wir hatten, habe ich in diversen Archiven gesucht und jetzt wahrscheinlich den Mann gefunden, der meinen Vater gezeugt hat. Es gibt noch weitere Nachkommen von ihm. Um ganz sicher zu gehen, müsste man einen DNA-Abgleich machen, aber das ist eine sensible Angelegenheit, und deshalb wird es die völlige Gewissheit wohl nicht geben.“
Auch wenn die Ahnenforschung die letzte Antwort nicht geben kann, seine Archivsuche hat Luboš Hamouz detektivisches Vergnügen bereitet.