Meine Wurzelheimat liegt in Tschechien…

Martina Büchel (Foto: Ondřej Tomšů)

Die Suche nach den eigenen Wurzeln: Für manche bedeutet sie, bereits verstorbene Vorfahren in Archiven aufzuspüren. Für andere wiederum heißt das, in die Heimat der Ahnen zu fahren und die Gegend, die Orte, vor allem aber die Menschen dort kennenzulernen. Ein solches Beispiel wollen wir im heutigen Forum Gesellschaft vorstellen

Dobischwald  (Foto: Archiv des Vereins heimattreuer Kuhländler e.V)
Das Kuhländchen ist eine historische Landschaft in Mähren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa 100.000 deutsche Einwohner in der Region. Eben dort hat Martina Büchel ihre – wie sie es nennt – Wurzelheimat gefunden. Sie lebt heute in Hessen. Doch im Kuhländchen ist ihr Vater auf die Welt gekommen. Ihre Großeltern Emil und Aloisia Klesel lebten dort in der Gemeinde Dobischwald, heute Dobešov. Der Großvater ist im Krieg gefallen. Die Oma hat überlebt, wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt. 70 Jahre nach diesen Ereignissen hat sich Martina Büchel auf die Suche nach ihren Wurzeln im Kuhländchen gemacht. Ihren eigenen Worten nach wollte sie die Familienseele aufspüren. Der Ausganspunkt war folgender:

Martina Büchel  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Ich bin erkrankt an der Psyche. Ich hatte das Gefühl, wurzellos zu sein, nicht in mich ruhen zu können, nicht angekommen zu sein. Dieses Gefühl habe ich schon seit meinen Jugendjahren mit mir herumgetragen. Dann bin ich auf dem Weg der Genesung gewesen, und mein Mann sagte zu mir: ‚Fahr an den Ort, an dem deine Oma gelebt hat, und fang an zu schreiben‘.“

Kriegsenkel-Generation: Nachgeborene von Heimatvertriebenen

Und das hat sie auch getan. Die Suche führte Martina Büchel zunächst nach Bayern, wo ihre Oma mit ihren drei Kindern nach der Vertreibung aus der Tschechoslowakei angekommen war. Zudem besuchte sie das Frankfurter Kriegsenkel-Forum. Als Kriegsenkel werden die Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs bezeichnet, die durch die von ihren Eltern erlittenen, unverarbeiteten psychischen Traumata indirekt mittraumatisiert wurden. Bei ihrer Ahnensuche forschte Martina Büchel aber nicht in Archiven und alten Kirchenbüchern.

Literatur zu den sogenannten Kriegsenkeln  (Foto: Archiv von Martina Büchel)
„Ich bin nicht über diesen Weg gegangen, sondern über die Literatur zu den sogenannten Kriegsenkeln. Diese setzt sich Themen auseinander wie: Warum bin ich so, wie ich bin? Was habe ich bislang an Schwierigkeiten, die auf Grund von Flucht und Vertreibung auf mich gewirkt haben? Ich hatte auch einen Artikel im Heimatbrief geschrieben. Deswegen bin ich aufgefordert worden, zu einem Heimattreffen nach Prag zu reisen. Das war der Anfang.“

Bereits als Kind wusste sie, dass ihre Eltern Sudetendeutsche sind. Ihre Mutter stammte aus dem Böhmerwald und der Vater aus Mähren. Für die Suche nach ihren Wurzeln wählte sie die Heimat ihres Vaters:

„Die Brücke ist die Oma. Ich bin als Kind sehr viel in den Sommerferien zu der Oma gefahren, und ich war ihr sehr nah. Ich bin die erstgeborene Enkelin väterlicherseits und ich bin mit vielem großgeworden, was ich dann, als ich im Kuhländchen war, gesehen habe: vom Kulturellen bis zum Essen. Das ist mir alles vertraut.“

Drei Besuche im Kuhländchen

Museum für tschechisch-deutsche Verständigung  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Insgesamt hat Frau Büchel bisher dreimal das Kuhländchen besucht.

„Ich bin 2016 dort gewesen. Dann bin ich 2017 bei der historischen Sankt-Anna-Wallfahrt mitgelaufen. Im Anschluss daran habe ich die deutschstämmigen und die tschechischen Freunde in das Odrauer Heimat-Museum für tschechisch-deutsche Verständigung (Muzeum Oderska) eingeladen und über die Wallfahrt und über das Treffen in Prag 2016 berichtet. Ich habe dort Věra Šustková kennengelernt, sie hat übersetzt. Ich habe Bilder präsentiert, und wir sind ins Gespräch gekommen. Das sehe ich als meinen Beitrag für Begegnungen und versöhnende Gespräche über die Wurzeln an. Ich spüre dort, das sind meine Wurzeln, ich kann mich dort in Vielem wiederfinden: in der Landschaft; wenn man dort Deutsch spricht, höre ich meine Oma; auch im slawischen Aussehen. Ich habe das eine oder andere Mal jemand Älteren gesehen und an meine Oma gedacht. Das sind Gefühle, die mir sehr gut tun.“

Ulrike Edlbauer,  Martina E. Büchel,  Willfried Klesel,  Wilfried Karl Klesel,  Jaroslav Juroška und Josef Klézl  (Foto: Jindra Kunc)
Bereits beim ersten Besuch lernte Martina Büchel, geborene Klesel, sogar einen Cousin vierten Grades kennen. Von ihm bekam sie einen Stammbaum geschenkt, der bis ins Jahr 1667 zurückreicht.

„Ich habe über meine Suche geschrieben, habe auch Veranstaltungen initiiert und Kontakte zum Heimatverein ‚Alte Heimat Kuhländchen‘ aufgenommen. Da habe ich einen Engagierten getroffen, der in die alte Heimat gefahren ist. Er hat dort Kontakte zu seinen Ahnen gesucht und mitgeholfen, Gräber zu restaurieren. Er hat mir irgendwann gesagt: ‚Du musst da Verwandte haben.‘ Daher bin ich 2016 mit Josef Klézl zusammengekommen, und seitdem stehen wir in Kontakt. Ich kann zwar kein Tschechisch, aber wir können uns mit Hilfe von Anderen verständigen.“

Der Weg führte Martina Büchel natürlich auch in den Heimatort ihrer Familie, Dobešov. Im einstigen Haus ihrer Familie wohnt seit 1946 Jaroslav Juroška.

Martina Büchel  (Foto: Archiv von Martina Büchel)
„Er wohnt im Haus, das mein Großvater für seine Familie gebaut hat. Ich habe ihn 2016 und 2019 besucht. Er hat uns herzlich empfangen. Wir haben uns schön unterhalten und gelacht. Ich durfte durch das Haus gehen und habe mir auch die Schusterwerkstatt angeschaut.“

Der Besuch im ehemaligen Haus der Familie war für Martina Büchel von großer Bedeutung:

„Ich habe in mir das Gefühl gehabt des Ankommens. Zuvor war ich immer auf der Suche gewesen. Es ist ein sehr bewegendes Gefühl. Ich habe den Weg zu mir gefunden. Ich weiß, wo ich ein Stück Wurzelheimat habe, wo die Wurzeln sind. Ich habe das Gefühl: Das ist das, was ich gesucht habe. Es ist wahrscheinlich schwer nachzuvollziehen, weil es mein ureigenes Gefühl ist.“

Das Gefühl des Ankommens

Im Sommer 2019 reiste Martina Büchel erneut ins Kuhländchen. Als Motto des Besuchs wählte sie „Die Tür steht offen, mehr noch das Herz!“ Dieses Mal war sie aber nicht alleine, sondern in Begleitung ihres Cousins, ihrer Cousine sowie ihres Onkels Willfried Klesel. Er ist 1944 im Krankenhaus von Odrau / Odry geboren worden:

Dobischwald  (Foto: Palickap,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)
„Der Besuch war sehr schön. Wir haben ein kleines Treffen in dem besagten Odrauer Museum gemacht, auch mit dem Kreis der Kuhländler. Im Anschluss hat mein Onkel zum Essen eingeladen. Es war eine herzliche Stimmung. Wir fühlten uns aufgenommen. Die gleichen Gefühle wie ich hatten auch mein Onkel, mein Cousin und meine Cousine. Der Onkel hat auf Tschechisch eine Ansprache gehalten, dank Google ist das möglich, und wir haben uns alle verstanden.“

Unter dem Eindruck der Besuche im Kuhländchen ist der Entschluss entstanden, ein Familienbuch zu schreiben. Im Mittelpunkt stehen Geschichten über das Leben ihrer Familie, die Kultur im damaligen Dobischwald und in der Region:

„In unserem Familienbuch kommen drei Generationen zu Wort. Das ist ein abschließendes Projekt, aber nichtsdestotrotz werde ich weiterhin die Region bereisen.“

Familienbuch

Allen Opfern von Vertreibungen  (Foto: Archiv von Martina Büchel)
Die erste Generation vertritt der frühere Ortsbetreuer von Dobischwald, Ferdinand Sendensky (1909-2001), der selbst ein Buch über den Ort verfasst hatte. Auch er war ein Verwandter aus dem großen Stammbaum der Familie Klesel.

„Im ersten Teil von Ferdinand Sendensky will ich aus seinem Buch die Bereiche herausnehmen, in denen es um die historische Beschreibung, um die Kultur und um die Bräuche geht. Im zweiten Teil kommt mein Onkel zu Wort. Er berichtet aus seiner Perspektive, wie er als Sohn meiner Oma erlebt hat, wie sie über ihre alte Heimat gesprochen hat. Zudem beschreibt er die Heimattreffen, bei denen er selbst war. Und ich werde eben von meiner Spurensuche berichten.“

Dabei will Martina Büchel einfließen lassen, wie die nachgeborene Generation mit dem Thema Flucht und Vertreibung umgeht.

„Ich möchte einen Impuls geben. Vielleicht gelingt es mir, dass andere Angehörige der Kriegsenkelgeneration aufbrechen und auch schauen, was ihnen gut tun könnte. Durch das viele Zuhören, Erinnern und Erleben meiner Familiengeschichte väterlicherseits und vor allem durch das Erspüren der Familienseele habe ich mir meine Wurzelheimat erschlossen. Und ich bin bei dieser Suche gewachsen. Das kann ich nur jedem empfehlen.“