Akkordeon und Blindenstock - Stanislav im Dschungel der Karlsbrücke
Die alte Dame von Prag hat am 9. Juli ihren 650-sten Geburtstag gefeiert. Ihr Rücken krümmt sich über die Moldau - über einen halben Kilometer ist sie lang, die Karlsbrücke. Hier wurde gekämpft, gehandelt, geliebt, gehenkt und Frieden geschlossen. Heute haben Touristen die Karlsbrücke eingenommen. Und in ihrem Schlepptau sind wie immer Händler, Zeichner und Musiker.
Der Mann mit dem Akkordeon um die Schultern und der Blechbüchse zu Füßen starrt mit milchigen Augen ins Nichts - er ist blind.
"Ich heiße Stanislav Mechura. Ich bin schon alt - 55 Jahre alt. Ich bin blind von Geburt an."
Seit 1990 spielt Stanislav auf der Brücke Akkordeon. Unter den Kommunisten gab es keine Straßenmusiker, erzählt Stanislav, weil es sie einfach nicht geben durfte. Dafür nutzt er die Freiheit jetzt so gut es geht.
"Ich versuche eigentlich immer zu spielen, solange nicht der allergrößte Frost herrscht und solange es nicht regnet, versuche ich auch im Winter zu spielen."
Früher, sagt Stanislav, war die Karlsbrücke ein Dschungel von Händlern, Zeichnern und Musikern. Man machte sich gegenseitig Konkurrenz, riss sich um die wenigen Plätze. Das war gerade für Stanislav unangenehm. Als Blinder musste er sich irgendwie durchsetzen. Seit 1998 gibt es aber Platzkarten für bestimmte Zonen auf der Brücke."Ich brauche hierfür eine Lizenz von der Vereinigung der Künstler auf der Karlsbrücke. Ich darf hier einmal täglich drei Stunden spielen. Ich muss genau die Tage und die Stunden angeben. Heute also von 16 bis 19 Uhr."
Für die Genehmigung muss Stanislav 210 Kronen pro Tag zahlen plus eine jährliche Pauschale von 1500 Kronen. Das sei nicht gerade wenig, aber es lohne sich noch. Die Münzen, sagt er, klingeln in seiner Büchse eigentlich genauso wie früher. Da habe sich nicht viel verändert. Aber mit 100 Kronen könne man leider längst nicht mehr so viel kaufen wie früher.
Das Akkordeonspielen hat Stanislav auf dem Prager Jan Deyl-Konservatorium für Blinde erlernt, dem einzigen seiner Art in Europa. Das war - er überlegt und versucht es dann noch mal auf Deutsch: "Von 1970 bis 1976." Seitdem arbeitet Stanislav als Musiklehrer.
"Ich bin Musiklehrer an Musikschulen in Podebrady und in Prag. Ich lehre Kindern Gitarrespielen und Akkordeon", sagt er und schiebt dann noch auf Tschechisch hinterher:"So wie man das heute kurz gesagt bei uns eben so macht - zwei Arbeitsverhältnisse. Mit einer Arbeit würde das alles schlecht gehen."Und eigentlich sind es ja drei Jobs, die er macht, wenn man den Arbeitsplatz unter freiem Himmel hinzuzählt. Der ist aber nicht ungefährlich. Zu kämpfen hat Stanislav nämlich mit Dieben:
"Es ist mir nicht nur einmal passiert, dass mich jemand bestohlen hat. Die sind ausgebufft. Es kommt ein ganzer Haufen Touristen vorbei. Zwei Diebe mischen sich darunter, einer nimmt das Geld, der andere deckt ihn. Hier muss man jemanden haben, der für einen aufpasst. Ich habe fast immer jemanden in der Nähe, eine Art Assistentin oder auch Freunde, die darauf aufpassen. Heute sind sie hier, es dürfte also eigentlich nichts passieren."
Aber die Lust am Spielen hat er trotzdem nicht verloren. Er lässt sein Akkordeon tief Luft holen und legt wieder los. Er hat ja nur drei Stunden Zeit!