Albright: Nun seid ihr an der Reihe, Studenten!

Madeleine Albright (Foto: ČTK)

In den letzten Tagen wurde viel gefeiert und zurückgeblickt auf ein Ereignis, das sich im November 1989 kaum jemand hatte träumen lassen – die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei. Vor 20 Jahren waren es Studenten, die den Startschuss gaben und auf der Straße friedlich ihre Bürgerrechte einforderten. Heute ist es an der Zeit, die gewonnenen Rechte auf den Prüfstand zu stellen. Das finden zumindest die Studenten der Initiative „Demokratie-Inventur 2009“. Wie Studenten von heute zu dem Erbe der Samtenen Revolution stehen, das erfahren Sie nun in einer neuen Ausgabe unserer Sendereihe „Forum Gesellschaft“ von Iris Riedel.

Es ist Samstag, der 14. November 2009. In die Aula der Philosophischen Fakultät in Prag strömen unablässig Studenten. Viele kommen gar nicht mehr hinein. So in einer Menschenmenge eingezwängt kann man die Athmosphäre, die hier schon vor 20 Jahren den Raum erfüllt haben muss, anschaulich nachempfinden. Denn diese Veranstaltung ist eine von vielen, die anlässlich des Jubiläums der Samtenen Revolution organisiert wurden. Das Besondere: Hier sind die Urheber wie vor 20 Jahren Studenten. Eine zierliche junge Frau, die Sprecherin der Studenten-Intiative „Demokratie-Inventur 2009“ Silvie Mitlenerová, tritt an das Rednerpult und verliest den Anwesenden eine Petition:

„Unsere Demokratie feiert ihren 20. Geburtstag. Schon lange arbeitet man an der Vorbereitung eines riesigen Straßenfestes – und das wird wohl wie immer verlaufen: Auf der Bühne strahlen Popstars der letzten 40 Jahre, Politiker loben sich selbst dafür, wie gut sie uns durch die Klippen der Freiheit geschifft haben, und die meisten Bürger verlängern ihr Wochenende und verschwinden. Wenn es dabei bleibt, wird das Novemberjubiläum eine weitere verpasste Chance sein. Der 20. Jahrestag ist jedoch eine außergewöhnliche Gelegenheit: nicht nur für den gewöhnlichen Rückblick, sondern für eine Inventur unserer Demokratie.“

Sylvie Mitlenerová ist eine von vielen politisch aktiven Studenten, die sich im letzten Jahr zum 19. Jahrestag der Revolution in der Initiative „Demokratie-Inventur 2009“ zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel war, es den 20., also den runden Geburtstag der Revolution nicht nur mit Feuerwerk und Jubel zu feiern, sondern auch kritisch zu beleuchten, was in den letzten 20 Jahren auf der politischen Bühne in Tschechien geschehen ist. Mitlenerová:

„Letztes Jahr zum 17.11. haben wir einen Aufruf gestartet, der sich an die Politiker richtete. Er hieß: „Macht uns ein Geschenk zum 20.“. Wir haben gefordert, dass vier legislative Absurditäten abgeschafft werden, zum Beipsiel die scheinbar unbegrenzte Immunität der Abgeordneten und das nicht regulierte Lobbying. Nicht mal einen Teil dieses Geschenks haben wir bekommen.“

Václav Havel  (Foto: ČTK)
Doch „Demokratie-Inventur 2009“ sagte sich: Nur der Unermüdliche wird belohnt. Anlässlich des 20. Jahrestages setzten die Studenten vier Veranstaltungen an, bei denen über Probleme allgemeinerer Natur debattiert werden sollte. Das waren erstens „Reflektion der kommunistischen Vergangenheit“, zweitens „Lücken in der Bildung“, drittens „Schiefe Demokratie und Desinteresse an öffentlichen Angelegenheiten“ und als letztes die an diesem Samstag stattfindende Diskussion über die „Rolle der Tschechischen Republik in der Welt“. Um den Debatten einen gewichtigen Akzent zu geben luden sich die Studenten jeweils prominente Gäste ein. Darunter waren Größen wie Václav Havel, der mit seinen Anekdoten das Publikum sichtlich erheiterte und zum Abschluss seines Redebeitrages über „Die Feinde der Freiheit“ Standing Ovations erntete. Wohl weniger für seine kurze Rede, als vielmehr für sein stetes Mahnen und Handeln. „Wenn man aus dem Gefängnis kommt, dann merkt man plötzlich, dass man ständig etwas entscheiden muss. Das geht früh los. Wenn der Wecker klingelt, muss man sich entscheiden, ob man aufsteht oder noch fünf Minuten liegen bleibt, dann ob man die grauen oder die schwarzen Hosen anzieht. Wenn man aus dem Haus tritt, ob man mit der Bahn, der Metro oder dem Auto fährt oder vielleicht zu Fuß geht. Und schon kriegt man Kopfschmerzen…,“ so der Expräsident.

Philosoph André Glücksmann mit Studenten  (Foto: ČTK)
Nicht nur Havel, auch der polnische Dissident Adam Michnik, der französische Philosoph André Glücksmann und der englische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash sowie viele andere waren gefragte und gern gesehene Diskussionsteilnehmer. Auf den heutigen Gast müssen die Studenten geradezu hingefiebert haben, sonst wäre die Aula Magna der Karlsuniversität kaum so überfüllt. Es ist die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright.

Madeleine Albright ist geborene Tschechin, deren Familie in die USA emigrierte. Die Studenten löchern sie mit Fragen. Sie scheinen regelrecht hungrig nach Informationen zu sein, was sich auf der weltpolitischen Bühne wirklich abspielt. Albright ist unerwartet offen, direkt und kontert unpasssende Fragen geschickt. Albright gibt den Studenten vor allem eines zu bedenken:

Madeleine Albright  (Foto: ČTK)
„Die Wahrheit ist, dass Demokratie nur funktioniert, wenn Leute daran arbeiten. Das ist Arbeit! Am Anfang kam hier die Anmerkung auf, dass wir nicht schon wieder sagen sollen, dass es die jungen Leute machen müssen. Aber gerade das müsst ihr! Und dazu noch: ‚Politician’ ist kein schlechtes Wort!“

Aber Tatsache ist wohl, dass die Studenten der Initiative „Demokratie-Inventur 2009“ eher die Ausnahme unter den tschechischen Studenten sind. Zuzana Majbová zum Beispiel ist Doktorandin der Politikwissenschaft und selbst sie findet es schwierig, das Erbe ihrer Eltern aus der Samtenen Revolution fortzuführen:

„Man bemüht sich wirklich, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, aber die Zeit für diese positiven Freiheiten zu finden, ist verdammt schwer.“

Sie habe bei vielen ihrer Freunde gesehen, wie zeitaufwendig es ist, politisch aktiv zu sein. Zuzana Majbová:

„Es ist halt so, wenn man ein Student ist, hat man viel Kraft und Vorstellungen, wie man alles ändern kann. Und dann, wenn man sieht, wie schwer ist ist eine Arbeit zu finden, geht einem auf, dass es total schwer ist, etwas zu bewegen. Man resigniert eigentlich.“

Die Soziologiestudentin Jana Fischerová gibt unumwunden zu, dass sie sich nicht für Politik interessiert. Ihre Kräfte hebt sie sich lieber dafür auf, vor Ort anzupacken. Als Mitglied der Umweltorganisation Brontosaurus fährt sie fast jedes Wochenende auf Workcamps, um Denkmäler wieder aufzubauen oder die Natur zu entrümpeln. Auf Politiker schaut sie vielmehr mit Verachtung – und eben Resignation:

Madeleine Albright und Václav Havel  (Foto: ČTK)
„Wir müssten wohl unsere Politiker verändern, aber leider ist der menschliche Charakter immer gleich. Das braucht eine langsame Veränderung hin zu gewissen moralischen Werten. Dass es eben nicht nur um das eigene Wohl geht. Die Politiker bekommen ihr Gehalt ja nicht dafür, dass sie sich in die Abgeordnetenkneipe setzen und Bier trinken,“ sagt Jana Fischerová

„Für mich bedeutet die Samtene Revolution eine gewisse Verantwortung dafür, wohin dieser Staat, in dem ich lebe, steuert und auch eine Verantwortung für das politische Geschehen in diesem Staat. Honza Hubík ist Philosophiestudent. Als Student versuche ich mich in öffentlichen Fragen zu engagieren. Also, meine Aktivität sieht nicht so aus, dass ich mich direkt an der Diskussion beteilige, aber so, dass ich versuche, mich zu informieren und mir eine eigene Meinung zu bilden, auf deren Grundlage ich dann wähle.“

Silvie Mitlenerová von „Demokratie-Inventur 2009“ hat sich es sich auch einfacher vorgestellt, etwas verändern zu können. Nun weiß sie, dass es dafür kleine Schritte braucht, auf politischer und studentischer Ebene.

„Und jetzt bleibt uns noch den 17. November zu feiern! Wir werden natürlich auch ein wenig feiern, weil wir sehr froh sind, dass wir Demokratie haben, dass wir hier Madelaine Albright sehen können, dass wir auf dem Wenzelsplatz stehen und sagen können, was wir denken.“