Der Spiegel des hässlichen Mädchens: Václav Havel blickt zurück

Václav Havel (Foto: ČTK)

Václav Havel, der Wortführer der oppositionellen Kräfte, fuhr am 17. November 1989 auf sein Landhaus im Riesengebirge. In Prag hätte er den demonstrierenden Studenten die Schau gestohlen, fürchtete er. Doch lange blieb der namhafte Dramatiker und Bürgerrechtler nicht im Abseits. In den Tagen des Umbruchs wurde Havel für viele Bürger zum Hoffnungsträger. Bald hallten die Straßen Prags wider von dem Ruf „Havel auf die Burg!“. Am 29. Dezember 1989 wurde Václav Havel zum Staatspräsidenten gewählt. 13 Jahre lang stand er an der Staatsspitze - zunächst der Tschechoslowakei und ab 1993 der nunmehr selbstständigen Tschechischen Republik. Wie beurteilt der Architekt der Samtenen Revolution rückblickend die Entwicklung seines Landes nach 1989?

Das runde Jubiläum der Samtenen Revolution war für Václav Havel Anlass für eine Rückschau. Der ehemalige Staatspräsident berief eine Pressekonferenz in- und ausländischer Journalisten im Prager „Theater am Geländer“ ein. Grundsätzlich sei der Systemwechsel erfolgreich vollzogen worden, stellte der einstige Bürgerrechtler fest, der die neue Staats- und Gesellschaftsordnung in seinem Land mit aus der Taufe gehoben hatte:

„Die Richtung, die wir damals einschlugen, hin zu einem demokratischen Staat, zu einem Rechtsstaat, zur Freiheit der Bürger, Respektierung der Menschenrechte und Marktwirtschaft, all das wird nach und nach verwirklicht und erfüllt. Wenn auch unendlich langsam, auf Umwegen und mit zahlreichen unerwarteten Hürden. Wir können uns über unsere derzeitige Situation beklagen und schimpfen. Doch ich würde nicht sagen, dass wir von den grundlegenden Idealen, die wir damals hatten, abgewichen seien.“

Die Richtung stimme also, das Ende des Weges liege jedoch noch in weiter Ferne, mahnte Havel. Denn trotz aller blendender Erfolge stehe die Demokratie in Tschechien bei genauerem Hinsehen nach wie vor auf schwachen Beinen:

„Der Wiederaufbau der Bürgergesellschaft, die vor Jahrzehnten total zerstört wurde, kommt langsam, stockend und nur mit enormen Schwierigkeiten voran. Auch dass eine Schicht wirklich verantwortungsbewusster Unternehmer entsteht, erfordert viel Zeit. Nicht weniger schwierig ist die Herausbildung eines funktionierenden Rechtsstaates. Aber das größte Problem ist, dass völlig ignoriert wird, dass wir eine sittliche Ordnung brauchen, die als Grundlage der Rechtsordnung und in letzter Konsequenz des gesamten Lebens der Gesellschaft dienen kann“, so Havel.

Die Beziehung zu den Mitbürgern und zur menschlichen Gemeinschaft müsse neu gefunden werden, hatte Havel schon früher in seinem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ betont. Wo aber die Bürgergesellschaft schwach ausgeprägt sei, dort fehle auch der Nährboden für eine wahrhaft pluralistische demokratische Kultur, glaubt Havel. Tschechien steckt nach Ansicht des ehemaligen Staatspräsidenten noch in einer Phase des Postkommunismus. Vielfach gäben von früheren Generationen ererbte Verhaltensmuster noch heute den Ton an.

„Die politischen Schlüsselfunktionen nehmen heute Personen um die 50 Jahre ein. Ihre Sozialisierung erfolgte in der besonders düsteren Zeit der so genannten ‚Normalisierung’. Die Normalisierung hat ihnen ihren Stempel aufgedrückt, und sogar auch ihren Kindern. Auch sie haben zu Hause jene Atmosphäre der Angst, Vorsicht und Unterwürfigkeit erlebt, die damals herrschte.“

Die entscheidende Klärung und Bereinigung der Verhältnisse sei wohl erst von künftigen Generationen zu erwarten, vermutete Havel. In Tschechien herrsche ein Mangel an offenem gesellschaftlichem Dialog. Dieser Mangel, so Havel, zeige sich auch bei der Aufarbeitung des Unrechts der kommunistischen Vergangenheit. Für viele Tatsachen sind Havel zufolge bisher nicht die treffenden Worte gefunden worden. Auch sei zu wenig Druck auf die Kommunisten ausgeübt worden, sich zu wandeln, sagte der einstige Oppositionelle:

Václav Havel  (Foto: ČTK)
„Diese Partei hat nach der Samtenen Revolution ihre Chance bekommen, Genauso wie in allen anderen postkommunistischen Ländern auch. In einigen hat sie sich in eine vernünftige eurokommunistische oder in eine sozialdemokratische Partei umgewandelt, anderswo, wie zum Beispiel hierzulande, hat sie keinen solchen Wandel vollzogen. Dafür war wohl in Gesellschaft und Politik nicht genug Energie vorhanden. Nach allem, was mir bekannt ist, hat die kommunistische Partei ihre Chance nicht genutzt.“

Havel, der gesellschaftskritische Schriftsteller, hielt seinen Zeitgenossen auf der Pressekonferenz wieder einmal einen Spiegel vor, der alles andere als schmeichelhaft ist. Man möge sich nicht benehmen wie das hässliche Mädchen, das den Spiegel zerbricht, weil es sich darin nicht gefällt, lautet der damit einhergehende, unausgesprochene Appell. Oft werde als Pessimismus bezeichnet, was in Wahrheit Verbesserungswille sei, bemerkte Havel an die Adresse derjenigen, denen seine kritische Stimme lästig ist. Das Spannungsfeld zwischen Wunschziel und Wirklichkeit kenne auch er selbst nur zu gut:

„Meine gesellschaftliche Rolle ist schicksalhaft. Die habe ich nicht ganz freiwillig gewählt und kann sie nicht planen. Die Rollen meiner Theaterstücke dagegen denke ich gründlich durch, wenn ich sie schreibe. Ich habe mehr Einfluss auf sie als auf mein eigenes Schicksal.“