Als deutscher Arzt in Großbritannien: Ein Blick auf zwei Systeme
In Deutschland streiken die Ärzte. Sie fühlen sich ausgebeutet, klagen über schlechte Arbeitsbedingungen - und wandern ab. Vor sechs Jahren kehrten rund 1000 Mediziner Deutschland den Rücken, vor zwei Jahren waren es bereits mehr als 2.700 Ärzte. Der Schwund wird immer größer - eine Riesenverschwendung von Ressourcen, klagen Experten. Insgesamt arbeiten etwa 12.000 deutsche Ärzte im Ausland. Besonders beliebt ist Großbritannien. Auf den ersten Blick ein Rätsel, zumal der NHS, der staatliche Britische Gesundheitsdienst, eher mit negativen Schlagzeilen von sich hören macht. Was macht den NHS für Ärzte attraktiv? Ruth Rach hat sich mit einem deutschen Arzt unterhalten, der schon im Jahre 1994 auf die Insel abwanderte. Eigentlich wollte er dort nur ein Praktikum absolvieren. Inzwischen hat er eine führende Stellung in einem großen Krankenhaus in Südlondon.
Welche Vorteile hat es denn für Sie, in Großbritannien zu arbeiten?
"Das Arbeitsklima ist sehr viel entspannter, und die Hierarchie ist flacher. Die Leute reden miteinander, sind relativ unkompliziert. Man kann andere einfach anrufen und mal um ihre Meinung fragen. Ich nehme an, dass ich auch eine breitere praktische Ausbildung bekommen habe. Denn hier muss man zum Beispiel mindestens sechs Monate Innere Medizin machen, dann sechs Monate Chirurgie, und dann noch einmal sechs Monate in einem Fach seiner Wahl. Danach konnte ich erst für zwei oder drei Jahre verschiedene Subfächer der Inneren Medizin absolvieren."
Gibt es im Vergleich zu Deutschland auch Nachteile?"Es ist nach wie vor so, dass der NHS unter der jahrzehntelangen Unterfinanzierung leidet. Das ist besonders in den Gebäuden und der Infrastruktur zu sehen. Eine bestimmte Art von Rationalisierung findet wohl nach wie vor statt. Es wird gefragt, ob etwas wirklich eine wichtige Ausgabe ist, ob es die Menschen gesünder macht. Geld wird nicht so ohne weiteres ausgegeben."
Würden Sie denn sagen, dass die Menschen in Deutschland umgekehrt überbehandelt werden?
"Mir scheint, das deutsche Gesundheitssystem ist deshalb so kostenträchtig, weil es dort die Aufteilung zwischen der Krankenhausmedizin und den niedergelassenen Ärzten gibt, die ebenfalls ein berechtigtes Interesse daran haben, dass es ihnen wirtschaftlich gut geht. Hier in England finden sämtliche fachspezifische Konsultationen in einem Bereich eines Krankenhauses statt. Das ist ein Poliklinik-System, das natürlich wesentlich kostengünstiger arbeitet. Die Duplizierung, die es in Deutschland gibt, braucht man nicht."
Haben Sie das Gefühl, dass Sie hier mehr Verwaltungsarbeit haben, oder auch mehr Nachtschichten?"Der große Unterschied besteht darin: In Deutschland braucht das Krankenhaus die Ärzte auch, um den gesamten Vorgang rund um jeden Patienten, der ins Krankenhaus kommt und wieder entlassen wird, zu kodieren. Hier in England ist das delegiert. Das wird von Leuten in der Administration erledigt und ist kein Aspekt meiner Arbeit. Ich habe aber relativ regelmäßige Verantwortung in der Lehre, also für Studenten, die bei uns entweder im Team mitarbeiten oder im Krankenhaus Unterricht haben. Und was die Nachtschichten betrifft: Diese stimmen inzwischen mit der europäischen Arbeitszeitdirektive überein, die von 48 Wochenarbeitsstunden spricht. Deutschland hingegen hat diese Legislatur nun für ein weiteres Jahr ausgesetzt, auf dem Rücken der Ärzteschaft. Die Gesellschaft und vor allem die Politiker in Deutschland haben noch nicht erkannt, wohin sich das deutsche Gesundheitssystem in den nächsten fünf oder zehn Jahren vermutlich entwickelt, wenn die jetzigen Ärzte in Rente gehen und sich immer weniger junge Leute für das Studium interessieren."
Wo verdienen die Ärzte besser: In Großbritannien oder in Deutschland?
"Ich glaube, besser verdient wird hier in England. Aber auch die Lebenshaltungskosten sind deutlich höher. Das heißt, ich glaube nicht, dass man sich hier einen höheren Lebensstandard für das Gehalt leisten kann. Der scheint mir wieder fast in Deutschland höher zu sein."