Ansätze von Tauwetter der 1960er Jahre: Tschechoslowakische Kulturschaffende fordern mehr Demokratie und Freiheit

hrabal_psaci_stroj.jpg

1956 kritisierte eine kleine Gruppe von Schriftstellern den Umgang der kommunistischen Staatspartei mit andersdenkenden Kollegen auf dem 2. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes. Die Parteiführung hatte den völlig unerwarteten und vereinzelten Protest als ernstes Warnsignal gewertet und die aus ihrer Sicht einzig richtige Antwort gegeben: Die Kultur noch mehr im Sinne der dogmatischen Parteilinie festzuschnüren. Die folgende Periode wurde von einigen Zeitzeugen die „kleine Eiszeit“ genannt. Doch Anfang der 1960-er Jahre begann „das Eis“ zu schmelzen. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte das Presseorgan des Schriftstellerverbandes - die kulturpolitische Wochenzeitung „Literární noviny“.

Ladislav Štoll
Der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) gelang es, die Zügel der Kulturpolitik bis etwa 1965 fest in der Hand zu halten. 1959 schwärmte der Ideologe Ladislav Štoll auf einer gesamtstaatlichen Konferenz in Prag über die hehren Ziele der sozialistischen Kultur:

„Während die Welt des Kapitalismus zerfällt und sich zunehmend als Anachronismus in den Augen der Völker offenbart, schreiten wir vorwärts als sozialistische Menschen, als wahrhaft moderne Menschen, im Alter der Weltallsatelliten, Raketen und des immer höher werdenden Bildungsgrads, um als Träger von neuen, höheren Formen der menschlichen Koexistenz die ganze Welt für die wahre Schönheit des Lebens zu gewinnen.“

Die Grenzen der Kultur waren klar abgesteckt. Anders als auf dem II. Schriftstellerkongress von 1956 gab es sieben Jahre später beim III. Treffen nur wenig Freiraum und Mut für Kritik an den Verhältnissen. Die dort vorsichtig formulierten Forderungen, den politischen Einfluss auf die Kultur zu verringern, hatten keinen Durchbruch herbeiführen können. Die kulturpolitische Entwicklung widerspiegelte im Wesentlichen die Lage in der Staatspartei selbst. 1966 wurde auf dem Parteitag der KSČ eine – wie es hieß – Kulturresolution verabschiedet, in der die Kommunisten zum allerersten Mal die stalinsche Auffassung von Kultur offiziell ablehnten.

Die Kommunisten distanzierten sich damit erst 10 Jahre nach Chruschtschows Kritik von Stalin. Die Kulturresolution warnte aber zugleich vor der „Gefahr einer Herabwürdigung der sozialistischen Ideologie“. Doch das Erwachen aus den sozialistischen Illusionen stalinscher Prägung hatte bereits begonnen. Eine bedeutende Rolle bei der Formung der öffentlichen Meinung über Politik und Kultur spielte die Wochenzeitung „Literární noviny“ (Literaturzeitung). 1952 hat man diese Kulturbeilage der Tageszeitung „Lidové noviny“ dem Schriftstellerverband zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung wurde allerdings Loyalität gegenüber der Obrigkeit erwartet und anfangs wurde sich auch daran gehalten.

Im ersten Jahr ihres Bestehens wurde die in verschiedene Sparten unterteilte Wochenzeitung noch vom Chefredakteur selbst zensiert. Die Machthaber strebten aber eine bessere Kontrolle sowohl über die Medien als auch über alle Kultureinrichtungen an. Daher wurde auf Beschluss des ZK der KPČ 1953 eine zentrale Aufsichtsbehörde eingerichtet. Die Zensur wurde allerdings lange Jahre nicht offiziell zugegeben. Milan Jungmann, Literaturkritiker und Übersetzer, begann 1955 bei der Literární noviny als Redakteur zu arbeiten:

„Der damalige Chefredakteur (Jan Pilař, Anm. d. R) hat es verschwiegen, dass es eine Zensur gab. Auch der Fahrer, der die Zeitungsartikel zur Kontrolle brachte, sagte uns nichts. Ich persönlich hatte keine Ahnung davon.“

Der Fahrer war natürlich kein gewöhnlicher Chauffeur, sondern ein Angehöriger der Geheimpolizei. Die Redakteure bekamen Arbeitsanweisungen vom Chefredakteur, der sie wiederum von der jeweils am Montag abgehaltenen Beratung in der Parteizentrale bekommen hatte. Die Redakteure lernten aber, den Lesern etwas über den Rahmen des Erlaubten hinaus mitzuteilen. Seit Beginn der 1960er Jahre habe man tröpfchenweise dies und jenes in die Zeitung „eingeschmuggelt“, erinnert sich der Literatur- und Filmkritiker A. J. Liehm, seit 1961 Redaktionsmitglied:

„Ich war für die Sparten ´Ausland´ und ´Film´ zuständig, doch im Lauf der Zeit hat mich viel mehr die Politik selbst interessiert. Deswegen habe ich gerne auch eine Filmrezension und etwas Ketzerisches zusammengebracht.“

Milan Jungmann
Seit Anfang der 1960er Jahre konzentrierte sich die Literární noviny immer mehr auf die kulturpolitische Publizistik. Neu war auch die Veröffentlichung von Werken ausländischer Autoren. Seit 1964, als Milan Jungmann die Redaktion übernahm, widmete man sich neben den Bereichen Kunst und Kultur auch soziologischen und ökonomischen Themen.

Parallel dazu vertieften sich die Meinungsdifferenzen über die Rolle der Kultur und ihrer weiteren Orientierung innerhalb des Schriftstellerverbandes. Es bildeten sich im Wesentlichen drei Stränge heraus: Die Minderheit bildeten jene, die den Sozialismus vollständig ablehnten oder die an seiner Lebensfähigkeit zweifelten. Den stärksten Flügel stellten die so genannten Reformkommunisten, zu denen auch der Schriftsteller Jaroslav Putík zählte:

„Wir konnten uns nicht vorstellen, das Regime abzuschaffen. Unsere Vorstellung war es, die Grenzen der Freiheit auszuweiten, allerdings im Rahmen des gegebenen Gesellschaftssystems.“

Ein Zeuge des damaligen Zeitgeschehens war auch der Dichter und literarische Übersetzer Josef Hiršal:

„Der Sozialismus war für uns eine Vision. Wir waren davon überzeugt, dass sich hierzulande eine Umwandlung der sozialen Strukturen vollziehen werde. Damit waren wir einverstanden, allerdings nicht mit den Repressionen, die hinzukamen.“

Das Team der Redakteure und freien Mitarbeiter der Literární novinywar ein Spiegelbild des differenzierten Meinungsspektrums im tschechischen Teil des Schriftstellerverbandes. 1965 stieß auch der namhafte Schriftsteller und Publizist, Ludvík Vaculík zur Redaktion. Damals war er noch Parteimitglied. Über die Redaktion sagt er:

„Es war eine hoch solidarische Gemeinschaft, die zusammenhielt. Ohne gegenseitige Feindschaft. Wenn es jemandem gelungen war, das Sieb der Zensur zu passieren, hielten wir es für eine Bestätigung unserer politischen Orientierung.“

Ludvík Vaculík
Es gab viele Faktoren, darunter auch die unerfreuliche Wirtschaftsentwicklung der Tschechoslowakei, die die totalitäre Macht immer mehr unter Druck setzten. Vieles begann zu bröckeln, darunter auch eine der Säulen im Kontrollapparat – die Zensur. A. J. Liehm über eine Erfahrung mit „seinem“ Zensor:

„Dieser Zensor, ein verdienter Parteigenosse, hat einmal mein Gespräch mit Ludvík Vaculík für eine Veröffentlichung bewilligt. Das Gespräch hat allerdings einen wahren Skandal ausgelöst. Der Mann kam in unsere Redaktion und sagte, er habe absolut nicht begriffen, warum das Interview so viel Furore machte. Vaculík habe doch vollkommen recht gehabt. Wir Redakteure wussten aber bald, welches Thema die Kontrolle passierte oder nicht. Falls nicht hatten wir Ersatztexte parat. Es war uns auch bekannt, dass die Zensoren mittwochabends unter großem Zeitdruck standen, weil die Zeitung am kommenden Tag erscheinen musste. Weil sie wenig Zeit hatten, genehmigten sie oft etwas, auch wenn der Text nicht ganz vorsichtig oder moderat verfasst war.

Die Leserschaft hatte wiederum durch einen Reifeprozess gelernt, auch zwischen den Zeilen zu lesen.

In der Mitte der 1960er Jahre war die Literární noviny die meistgelesene Kulturzeitung im Lande. Sie erschien mit einer Auflage von 125.000, etwas später sogar 135 000 Exemplaren. In kaum einer anderen tschechischen Kulturzeitung war das Themenangebot so umfassend und facettenreich. Die Zeitung fand reißenden Absatz, worüber sich die damalige Parteiführung gar nicht freute. Die sich wandelnde Atmosphäre in der Redaktion nahm sie mit Besorgnis wahr. Die Zeitung sei in letzter Zeit - so die Kritik aus den Parteietagen, Zitat, „zu einem öffentlichen Sprachrohr falscher Stimmungen geworden“. Außerdem habe sie, Zitat, „falschen und für die nicht gut informierten Leser irreführenden Attacken freien Lauf gelassen.“

Nach 1965 vertiefte sich rasend die Kluft zwischen der Parteispitze und dem Hauptorgan des Schriftstellerverbandes – der Literární noviny. Im Januar 1966 organisierte die ideologische Abteilung im ZK der KPČ ein Treffen mit der Redaktionsleitung. Abteilungsleiter Pavel Auersperg schrieb in einem Bericht, was die Kulturzeitung von der Partei auferlegt bekam. Und zwar, Zitat:

„… einen klaren, ohne jede Doppelsinnigkeit formulierten Standpunkt zu den nicht marxistischen Ansichten einzunehmen. Unsere Toleranz, die eine Triebkraft in der Entwicklung des marxistischen Gedankenguts darstellt, hat auch eine andere Seite - die Unversöhnlichkeit mit allem, was mit dem Marxismus und Sozialismus nicht zu vereinen ist.“

Die Hauptursache der „falschen und irreführenden“ Standpunkte sahen die KSČ-Dogmatiker in der aus ihrer Sicht mangelnden Reife der Redaktionsmitglieder. Der Chefideologe der Partei, Jiří Hendrych, wurde beauftragt, eine Reorganisation des gesamten Redaktionsrates vorzubereiten. Ein Verbot der beliebten Wochenzeitung aber wagten die Parteioberen nicht. Noch nicht. Gleichzeitig gewannen die Rufe von immer mehr Kulturschaffenden nach mehr Demokratie, Freiheit und Reformen an Intensität. Ende Juni 1967, als in Prag der IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes stattfand, schlugen die Spannungen in einen offenen Konflikt um. Gerade den IV. Schriftstellerkongress sehen Historiker als Startschuss für das Reformprogramm der Kommunistischen Partei, das unter dem Namen „Prager Frühling“ international bekannt werden sollte.