Beim Schriftstellerkongress 1967 öffnet sich tiefe Kluft zwischen Kulturschaffenden und Parteispitze
Der „Prager Frühling“ war 1968 eine Reformbewegung in der tschechoslowakischen kommunistischen Partei. Als Beginn gilt in der Regel der 5. Januar desselben Jahres. An diesem Tag wurde Alexander Dubček neuer Parteichef und löste damit Staatspräsident Antonín Novotný in dieser Funktion ab. Rund drei Monate später wurde Dubček zudem auch Staatsoberhaupt. Den Auftakt zum Prager Frühling bildete allerdings der IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Ende Juni 1967.
„Jeder, der durch eigene Bigotterie, Vandalismus, Kulturlosigkeit und mangelnde Freiheitsliebe den neuen kulturellen Entwicklungen ein Bein stellt, stellt es zugleich auch der Existenz dieser Nation.“
Für die Existenz der tschechischen und der slowakischen Nation hob Kundera die Notwendigkeit einer freien Literatur hervor. Denselben Tenor hatten auch weitere Diskussionsbeiträge. Arnošt Lustig zum Beispiel verglich die Politik der KPTsch mit der „antisemitischen Propaganda der deutschen Nationalsozialisten“. Pavel Kohout zog wiederum einen Vergleich zwischen der Pressefreiheit in Westdeutschland und der ČSSR, der zugunsten des kapitalistischen Staates ausfiel. Ähnlich schlecht fiel Ivan Klímas Vergleich der aktuellen Verhältnisse im Lande mit denen des Bachschen Absolutismus im alten Österreich-Ungarn aus.Von all den ungewöhnlich kritischen Rednern brachte aber Ludvík Vaculík wohl am meisten die Parteidelegation auf. Vor kurzem erinnerte sich Vaculík an seinen damaligen Auftritt:
„Ich erkannte damals, dass sich für mich die Gelegenheit bot, von der ich seit Langem oft geträumt hatte: ans Mikrophon zu kommen, das man mir nicht ausschalten konnte. Bei Staatsbesuchen, zum Beispiel als Chruschtschow nach Prag kam, wünschte ich mir, ganz nahe an ihn heranzutreten und zu sagen: Genosse Chrustschow, kommen Sie zur Seite, ich sage Ihnen etwas. Ich stellte mir dabei vor, was ich ihm persönlich dann so alles erzählt hätte. Aber das habe ich dann auf dem Schriftstellerkongress öffentlich gesagt. Zum ersten Mal nach meinem Beitritt zur Partei im Jahr 1950 hatte ich die Gelegenheit zu sagen und auch zu analysieren, wie ich mich in der Partei fühle.“Wenn man sich heute die Reden durchliest, in denen es beim IV. Schriftstellerkongress von Kritik nur so hagelte, verwundert nicht besonders, dass es keine einzige Original-Aufnahme des Rundfunks gibt. Doch schon die schriftlichen Zitate aus Vaculíks Rede zeugen von der vernichtenden Bilanz der kommunistischen Politik seit 1948.
„Es darf nicht übersehen werden, dass in den zwanzig Jahren bei uns keine gesellschaftliche Frage gelöst wurde, von den Grundbedürfnissen wie Wohnungen, Schulen und Wirtschaftswachstum bis zu feineren Bedürfnissen, die undemokratische Gesellschaftssysteme nicht lösen können, wie das Gefühl der völligen Anerkennung durch die Gesellschaft und die Orientierung politischer Entscheidungen an den Kriterien der Ethik (...). Ich habe das Gefühl, dass unsere Republik ihren guten Namen verloren hat.“Ludvík Vaculík bezeichnete tiefgehende Veränderungen in der ČSSR als unumgänglich:
„Sollte dieser Zustand weiter anhalten (und würden dagegen nicht gleichzeitig die natürlichen Abwehrkräfte der Menschen arbeiten), würde sich in künftigen Generationen von selbst der Charakter unserer beiden Völker ändern. Anstelle einer resistenten Kulturgemeinschaft würde eine Art leicht beherrschbare amorphe Bevölkerung entstehen, die zu beherrschen auch für Ausländer ein wahrer Genuss wäre.“In seiner Rede hatte Vaculík, der damals noch Parteimitglied war, mit allen Tabus gebrochen. Trotz seiner Kritik, der schärfsten seit der Machtübernahme 1948, betonte Vaculík, dass er aber das System nicht in Frage stellen wollte:
„Zum Schluss möchte ich ausdrücklich hervorheben, (...) was sicher auch so schon aus meiner ganzen Rede hervorgeht: Mit meiner Kritik an der herrschenden Macht will ich nicht dem Sozialismus vor den Kopf stoßen. Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung zum Sozialismus bei uns nötig war, und deswegen setze ich die Macht nicht mit dem Begriff Sozialismus gleich, so wie es die Macht selbst will.“An den drei Tagen des Schriftstellerkongresses meldeten sich insgesamt rund 40 Teilnehmer mit einem Diskussionsbeitrag zu Wort. Schon am zweiten Tag riss dem Ideologiesekretär des ZK der KPČ, Jiří Hendrych, der Geduldsfaden. Pavel Kohout hatte auf Wunsch der Mehrheit den offenen Brief des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn an den IV. Kongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes vom 16. Mai 1967 verlesen, wutentbrannt verließ darauf Hendrych den Kongresssaal. Solschenizyn übte in seinem Brief scharfe Kritik an der Zensur in der Sowjetunion. An die Reaktionen beim tschechoslowakischen Kongress auf den Brief des weltberühmten Autors erinnert sich Ivan Klíma:
„Das Verlesen von Solschenizyns Brief kam für die Parteidelegation, in der überwiegend Erzdogmatiker vertreten waren, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie hatte Angst vor der Reaktion der sowjetischen Seite. Nach Vaculíks Rede applaudierte das Publikum wie verrückt. Als aber die Parteidelegation den Saal verlassen hatte, erschrak - wie üblich bei uns - eine ganze Reihe der Kollegen. Einen Tag später tauchte Hendrych mit einer Gegenreaktion des Politbüros auf. Viele im Saal wurden plötzlich von Panik ergriffen.“Von da an war Hendrych offensichtlich fest entschlossen, den Schriftstellerverband mit massiven Eingriffen auf die Linie der Partei zurückzuzwingen. Am letzten Tag des Schriftstellertreffens kam er zurück und strich eigenmächtig elf reformorientierte Kandidaten von der Wahlliste für das Zentralkomitee der Schriftstellerorganisation. Das löste aber stürmische Proteste der Versammelten aus. Der Verbandsvorsitzende und anerkannte Germanist Eduard Goldstücker sowie einige andere zogen aus Solidarität ihre Kandidatur zurück. Letztlich verhinderte der Parteiideologe zumindest die Wahl von vier der Kandidaten in das ZK: von Pavel Kohout, Ludvík Vaculík, A. J. Liehm und Václav Havel. Doch dies war den Konservativen in der Parteiführung nicht genug. Vaculík, Liehm und Klíma wurden aus der Partei ausgeschlossen, Kohout wurde verwarnt und gegen Kundera wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Ivan Klíma mit einem Rückblick auf den IV. Schriftstellerkongress:
„Ich bereue es heute, dort nicht mehr gesagt zu haben, obwohl es die Gelegenheit dazu gab. Es stimmt, dass ich etwas vorsichtiger war als Vaculík, ich wollte mich aber im Wesentlichen nur auf ein Problem konzentrieren: auf die Schweinerei der Zensur. Diese wurde damals hierzulande praktisch zum 100. Jahrestag ihrer Aufhebung in Österreich-Ungarn gesetzlich verankert. Die Parteiführung hielt ihre Zensur für fortschrittlich im Vergleich zur Zeit der Donaumonarchie, als es keine gesetzliche Grundlage für die Zensur gegeben hatte. Nun seien – so ihre Begründung - bestimmte Möglichkeiten geschaffen worden, sich gegen Verstöße zu wehren. Tatsächlich war das Gesetz aber eine Unverschämtheit.“Die Reden der kritischen Autoren beim Schriftstellerkongress durften nicht von der Presse abgedruckt werden. Sie wurden allerdings massenhaft vervielfältigt, so machten sich letztlich mehrere Hunderttausend Menschen mit ihrem Inhalt vertraut. Auch das trug zu einer wachsenden Unruhe bei den konservativen Parteifunktionären bei und in der Parteiführung stiegen die Spannungen weiter an. Bevor die Reformbewegung des Prager Frühlings sich aber durchsetzen konnte, kam es zu weiteren Verboten. Die viel gelesene kulturpolitische Zeitung „Literární noviny“ war vielen Parteigenossen schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Ivan Klíma:
„Alle Redaktionsmitglieder wurden gefeuert. Es blieb nur ein Mann: der Sprachlektor. Die ‚Literární noviny’ wurden verboten und durch eine neue Zeitung, die so genannte ‚Erárky’ ersetzt, die von einer offiziell eingesetzten Redaktion gestaltet wurde. Diese war paradoxerweise bemüht, noch kritischer zu sein als wir, jedoch nur im Rahmen des offiziell Genehmigten.“
Die gefeuerten Redaktionsmitglieder und Redaktionsmitarbeiter, zum Großteil Schriftsteller und weitere Intellektuelle, die seit Jahren an der gesellschaftlichen Diskussion beteiligt waren, durften nicht mehr publizieren. Diese Maßnahmen begründete Ideologiesekretär Jiří Hendrych Ende September 1967 bei einer Tagung des ZK der Partei:„Unser Begriff der Freiheit darf nicht so weit gefasst werden, dass wir Angriffe auf unsere Partei, auf unseren sozialistischen Staat, auf unsere Außenpolitik dulden. (…). Es zeigt sich, dass ohne radikales Vorgehen gegen die Personen, die die Parteidisziplin verletzt haben (...), die Wiederherstellung eines einmütigen und einheitlichen Engagements der Kommunisten im Schriftstellerverband als unrealistisch anzusehen ist.“
Anfang Januar 1968 musste Antonín Novotný, und damit auch Hendrychs Schirmherr, von seinem Amt als Parteichef zurücktreten. Damit waren auch die Tage des ranghohen Parteifunktionärs gezählt. Die neue politische Führung schlug einen reformorientierten Weg ein, auch in der Kultur. Ab Februar 1968 ignorierten die Medien ganz einfach die Zensur, einen Monat später wurde die zuständige Behörde - die Zentrale Publikationsverwaltung - auf Beschluss der Parteiführung geschlossen. Ende Juni wurde die Zensur dann durch die Nationalversammlung auch per Gesetz abgeschafft.