Prager Frühling und sein Ende 1968: Erinnerungen eines DDR-Bürgers
Vor nunmehr 50 Jahren herrschte in der damaligen Tschechoslowakei eine echte Aufbruchsstimmung, denn die kommunistische Führung des Landes hatte entschieden: Wir wollen einen anderen, liberaleren Sozialismus, einen mit menschlichem Antlitz. Dies nährte die Hoffnung in den benachbarten Ostblockstaaten auf Veränderung, doch die politischen Machthaber in Moskau ließen den sogenannten Prager Frühling niederschlagen. Zeitzeugen erinnern sich. Den Anfang macht ein ehemaliger DDR-Bürger, der mittlerweile 76-jährige Berliner Hermann Bubke.
„Mit diesem Interesse habe ich natürlich die Sendungen von Radio Prag verfolgt. Und zwar deshalb, weil diese Sendungen einfach authentischer waren. Ganz im Gegenteil zu den Informationen in den damaligen DDR-Medien. Die Sendungen von Radio Prag waren zudem aktueller und detaillierten als die in den Westmedien. Deswegen war so spätestens ab April 1968 für mich das erste nach der Arbeit, den Sender Radio Prag einzustellen und die aktuellen Geschehnisse zu verfolgen. Das war wirklich sehr spannend.“
Doch was hat Bubke aus den Sendungen unserer ehemaligen Kollegen so alles erfahren können? In unserem Gespräch schildert er zunächst die damalige Zeit:„Es war damals der Beginn der Breschnew-Ära in der Sowjetunion, also eines stagnierenden Sozialismus mit stalinistischen Geheimdienststrukturen. Doch nun kam als Kontrast dazu auf einmal eine politische Reformbewegung unter Alexander Dubček, und das in einem benachbarten sozialistischen Bruderland! Dies zu verfolgen, das war faszinierend. Die Entwicklung in der Tschechoslowakei begründete auch die Hoffnung, dass die DDR – mit welcher Führung auch immer – sich später diesem Reformkurs möglicherweise anschließen müsse.“
Diese überaus optimistischen Nachrichten und Berichte aus Prag und anderswo im südlichen Nachbarland hatten Bubke und seinen Arbeitskollegen Reiner sehr neugierig gemacht. Im Frühjahr 1968 hatten sie deshalb beschlossen, ihren Jahresurlaub in der ČSSR zu verbringen. Beide wollten mit eigenen Augen sehen, wie die Menschen von Aš / Asch bis Košice / Kaschau den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ nun organisieren und gestalten wollten. Oder handelte es sich dabei doch um eine Konterrevolution, wie die DDR-Medien immer wieder hetzten? Die erste Station der Reise war Prag:„Am 16. August kamen wir vormittags mit dem Zug in Prag an. Wir waren natürlich sehr gespannt, was da los ist in dieser Stadt. Gibt es da eine Kontrarevolution oder Rebellen, worüber uns Zuhause immer berichtet wurde? Doch ich habe in Prag eigentlich nur friedliche Menschen gesehen, die dort ihrem Alltag nachgegangen sind und vor allem eingekauft haben. Da war überhaupt nichts zu merken, weder von Kontrarevolution noch von Rebellentum. Wir haben uns die Stadt ganz entspannt angeschaut. Und wir sind dort auch mit so manchen Menschen in Kontakt gekommen, soweit sie Deutsch sprechen konnten, denn wir konnten ja leider kein Tschechisch.“
Hermann Bubke: „Am 16. August kamen wir vormittags mit dem Zug in Prag an. Ich habe hier eigentlich nur friedliche Menschen gesehen, die ihrem Alltag nachgegangen sind und vor allem eingekauft haben. Da war überhaupt nichts zu merken, weder von Kontrarevolution noch von Rebellentum.“
Noch am selben Abend aber reisten Bubke und sein Arbeitskollege mit dem Zug weiter bis nach Žilina / Sillein. Ab hier beginnen nämlich die reizvollen Naturschönheiten im slowakischen Teil des Landes. Eine davon ist die Niedere Tatra, die Bubke und sein Freund mit viel Elan und Freude durchwanderten. Doch von einem Tag auf den anderen war alles anders. Beide wanderten,…
„… und wir kamen dann im Ort Kráľova Lehota an. Dort haben wir übernachtet, nachdem wir eine schwierige Bergtour hinter uns hatten. Davon waren wir total erschöpft. Wir konnten aber nicht richtig ausschlafen, denn am 21. August ganz früh morgens hörten wir laute und aufgeregte Stimmen. Da haben wir natürlich sofort nachgefragt, was da los sei. Viele Leute waren um ein Fernsehgerät versammelt und haben sich eine Ansprache angehört. Ich glaube, sie wurde vom tschechoslowakischen Präsidenten gehalten, doch ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Schließlich wurden wir informiert, dass der Einmarsch der sowjetischen Truppen begonnen hatte. Nebenbei gesagt aber wurde uns übermittelt, dass auch Truppenverbände der DDR-Armee daran beteiligt sein sollen. das hat uns natürlich enorm empört.“
Dennoch beschlossen Hermann Bubke und sein Freund Reiner, dass sie weiterreisen werden in die Hohe Tatra. Doch wo sie auch hinkamen, überall bot sich ihnen das gleiche Bild:„Es fuhren keine Fahrzeuge an dem Tage auf den Straßen, mit denen wir per Anhalter hätten mitfahren können. Also sind wir so um 8 oder 9 Uhr nach dem Frühstück auf den leeren Straßen weitergewandert in Richtung Hohe Tatra. Wir marschierten in der guten Hoffnung, dass irgendwann ein Auto kommt, dass uns mitnimmt. Bei unserem Fußmarsch sind wir durch ein Dorf gekommen, in dem überall Menschen waren, die aufgeregt an beiden Seiten der Straße standen. Sie sahen ziemlich traurig aus. Letztlich kam dann doch ein Fahrzeug, das uns mitgenommen hat. In derHohen Tatra ging es dann weiter mit den aufregenden Erlebnissen. Wir kamen zunächst gar nicht dazu, uns dort eine Unterkunft zu suchen. Die Menschen standen hier in Trauben um Radiogeräte herum und hörten die neuesten Meldungen. Wir waren alle sehr gespannt, was passiert da eigentlich?“
Laut Bubke hatte sich die Stimmungslage in der Bevölkerung an diesem Tag komplett gewandelt. Die Lockerheit und Entspannung der vorherigen Wochen und Monate war einer Ungläubigkeit und Nervenanspannung gewichen:
„An diesem 21. August wusste wirklich keiner, wie das Ganze weitergeht. Ist das nur eine vorübergehende Invasion? Ziehen die Truppen schon bald wieder ab? Insofern waren die Leute ratlos, aber auf keinen Fall waren die Menschen mehr entspannt. Und wir selbst waren voller Wut und empört, muss ich sagen. Dass hier so ein Einmarsch kam, und sogar DDR-Truppen daran teilgenommen haben sollten, das war für uns unfassbar.“Nach dem ersten Entsetzen, der Wut und Ohnmacht, die sich breitgemacht hatten, aber regte sich schon bald der Widerstand. Die beiden Deutschen aus Magdeburg hatten inzwischen die Stadt Poprad / Deutschendorf am Fuße der Hohen Tatra erreicht. Beim Abendessen im Hotel kam es zu einem angeregten Gespräch mit einem Tschechoslowaken, der Deutsch konnte. Am Ende des Gesprächs bat er Bubke und dessen Freund, ob sie nicht einen Aufruf auf Deutsch über den Rundfunk machen wollten. Beide Urlauber sagten zu und begannen nachzudenken. Bubke erinnert sich:
„Ich weiß noch, der Aufruf begann mit einer Aufforderung an die deutschen Soldaten, genau gesagt an die DDR-Soldaten. Wir erklärten, wir finden es unerhört, dass sie wieder in die Tschechei einmarschieren. Das ist ja bereits 1938/39 passiert.“Einen Tag später wurden sie von ihrem Gesprächspartner vom Vortag in einer Limousine abgeholt und in eine städtische Redaktion gebracht, in der man schon ein Tonbandgerät vorbereitet hatte. Hermann Bubke verlas den Aufruf. Dazu sagt er heute:
„Ich muss dazu sagen, das war für mich überaus beeindruckend, nämlich der Mut dieser Journalisten. Der Mut, die Bevölkerung schon unmittelbar in den Tagen der Invasion zu einem gewaltfreien Widerstand aufzurufen. Und wir hatten die kleine Ehre, mit unserem kurzen Aufruf über einen Radiosender bei Poprad, einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten – als ausländische Touristen.“
Hermann Bubke: „Der Mut dieser Journalisten war für mich beeindruckend. Der Mut, die Bevölkerung schon unmittelbar in den Tagen der Invasion zu einem gewaltfreien Widerstand aufzurufen. Und wir hatten die kleine Ehre, einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten.“
Auf der anderen Seite zeigt Bubke auch heute noch volles Verständnis für die damalige Angst der Tschechen und Slowaken. Schließlich mussten sie sich urplötzlich einer militärischen Übermacht entgegenstellen und mit bloßen Händen und Worten gegen Panzer antreten. Diese hatten auch bei Bubke und Partner ein schweres Magengrummeln ausgelöst:
„Schon auf dem Weg nach Štrbské Pleso, auf dem uns ein Fahrer mit seinem Auto mitgenommen hat, machten wir mit den sowjetischen Panzern unliebsame Bekanntschaft. Noch am 21. August kamen uns Panzerkolonnen entgegen, die knatterten furchtbar und machten viel Krach und Dampf. Da hatten wir richtig Angst. Wir waren ja lediglich mit unseren Rucksäcken unterwegs und haben uns gleich in den Straßengraben begeben. Die sowjetischen Panzersoldaten guckten uns indes von oben wirklich drohend an, weil wir als Tramper ja auch ein bisschen verdächtig erschienen. Also wir haben wirklich Angst gehabt.“
Nach diesen aufregenden Tagen in der Niederen und Hohen Tatra, sowie einem etwas freundlicherem Ende der Touristentour durch das Slowakische Paradies und die Stadt Košice, kamen Hermann Bubke und Reiner auf dem Rückweg noch einmal nach Prag. Die tschechoslowakische Hauptstadt war kaum wiederzuerkennen:„Als wir zurückkamen und das zweite Mal binnen kurzer Zeit in Prag waren, da herrschte große Aufregung. Wir haben dort viele Menschen gesehen, die demonstriert haben mit großen Losungen und Plakaten. Das haben wir dann auch fotografiert. Zudem waren alle Straßennamen anonymisiert zur Erschwernis der Okkupationstruppen, damit diese sich nicht orientieren konnten. Also es war richtig zu spüren, wie die Luft buchstäblich brannte. Das waren beeindruckende Stunden, die wir dort erlebt haben. Das werde ich nie vergessen.“
Hermann Bubke: „Hätte sich der Dubček-Kurs durchgesetzt, dann wäre wohl einiges anders gelaufen. Dann glaube ich, wäre auch die DDR und wahrscheinlich auch Ungarn und möglicherweise Polen gezwungen gewesen, sich dem anzunähern.“
Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings war gleichzeitig der Traum der beiden Ingenieure aus Magdeburg zerplatzt, dass sich letztlich auch die DDR hätte reformieren können. Andererseits zollt Bubke den Tschechen und Slowaken bis heute seine Anerkennung für die couragierte Weise, der alten Politik zu trotzen und einen neuen Weg zu gehen. Leider ist nicht mehr daraus geworden:
„Hätte sich der Dubček-Kurs durchgesetzt, was ich natürlich befürwortet habe, dann wäre wohl einiges anders gelaufen. Dann glaube ich, wäre auch die DDR und wahrscheinlich auch Ungarn und möglicherweise Polen gezwungen gewesen, sich dem anzunähern. Und das hätte natürlich ganz andere Optionen gebracht. Das hätte Europa meiner Meinung nach verändert, und wir hätten viele Jahre gewonnen. Und vielleicht wäre das ein Kurs gewesen, ausgehend von Osteuropa, der dem heute vorherrschenden Turbo-Kapitalismus etwas hätte entgegensetzen können. Das hätte ich mir gewünscht.“
Auch wenn sich dieser Wunsch nicht erfüllt hat, so ist Hermann Bubke auch heute noch dankbar, dass es den Prager Frühling überhaupt gegeben hat:
„Also das war ein sehr guter Ansatz in der damaligen Tschechoslowakei. Dass dies überhaupt gewagt wurde, dafür bin ich den Tschechen und Slowaken in meinen Erinnerungen stets dankbar. Ich schätze es hoch, dass sie versucht haben, diese Ideen umzusetzen und voranzutreiben.“